Apocalyptica
Haakon reden – jetzt!
Midael war kein Gefangener in den Hallen der Ragueliten. Im Gegenteil, während vergangener Aufenthalte hatte man ihn ermuntert, tief unter der Erde auf Entdeckungsreise zu gehen. Im Nachhinein bereute der Samaelit es, dass er sich nie die Zeit dafür genommen hatte, doch damals hatte er andere Probleme gehabt. Damals. Es war verrückt, wie weit weg die Zeit schien, in der er versucht hatte, die Probleme der Angelitischen Kirche in den Griff zu bekommen. Nach dem Verlust seiner heiligen Unschuld sah er heute vieles anders. Dennoch galt es, eine Welt zu retten oder doch zumindest seinen Teil dazu beizutragen, dass sie eine zweite Chance bekam – oder war es die dritte? Was spielte das schon für eine Rolle? Immerhin gab es genügend Menschen und Engel da draußen, die ihr ganzes Leben lang versucht hatten, Gutes oder zumindest nichts Böses zu tun. Für sie lohnte es sich, den Kampf nicht zu früh verloren zu geben.
Die zahlreichen Gänge und Kammern in den unteren Stockwerken der Arx hatten etwas Labyrinthartiges. Alles schien menschenleer zu sein. Als der Engel an der großen Halle anlangte, in der jahrzehntelang die Flugplattformen der Sarieliten ihren sicheren Platz gehabt hatten, hatte Midael endlich wieder einen Ort gefunden, den er kannte und an dem er sich orientieren konnte. Überrascht blieb er stehen, als er einen flüchtigen Blick in die große Halle warf. Sie war nicht leer. Noch immer stand eine der ungeheuer gewaltigen, schwebenden Plattformen an ihrem Platz, als hätte man sie in dem Trubel vergessen. Langsam, wie hypnotisiert vor Neugier, näherte Midael sich dem Gebilde. Die Konstruktion maß in der Länge sicherlich hundert Schritt und die Hälfte davon in der Breite. Sie thronte auf großen Stützpfeilern aus Stein und Stahl, die sie in über zehn Metern Höhe aufrecht hielten. Eine mächtige Finne stach senkrecht unter dem Rumpf in Richtung Erdboden und verschwand in einer eigens dafür geschaffenen Senke im harten Untergrund der Halle. Trotz ihrer gewaltigen Dimensionen hatte sie etwas Elegantes und Erhabenes. Es kam Midael fast vor, als hätte die Hand eines Riesen ein Stück Erde aus seiner Verankerung gerissen und in die Luft geworfen, wo es hängengeblieben war. Erst jetzt fiel dem Engel auf, dass die gesamte Halle sanft vibrierte. Es war ein dumpfes, kaum spürbares Summen, doch seine Sinne waren immer noch geschärfter als die eines jeden Menschen. Die Plattform lebte. Die sündhafte Technologie tief in ihrem Inneren war nicht verstummt. Etwas in Midael wollte den Flugapparat berühren, doch ein anderer Teil hielt ihn warnend davon ab.
„Ist sie nicht herrlich?“
Midael wirbelte herum. Er hatte den Besucher nicht kommen hören. Er musste sich zusammenreißen, damit uralte Reflexe nicht automatisch Dinge in ihm in Gang setzten, die er nicht mehr kontrollieren konnte.
„Verzeih, Freund, ich wollte dich nicht erschrecken, doch als ich dich nicht in deiner Kammer vorfand, begann ich, mir Sorgen zu machen.“
Midael entspannte sich. „Haakon. Schon gut, ich war nur in Gedanken versunken. Ich habe dich auch gesucht. Ich muss mit dir reden.“
Der Raguelis-Ab sah älter aus als noch wenige Tage zuvor. Selbst als er verdreckt und erschöpft mit Midael durch die Kanalisation der Ewigen Stadt geflohen war, hatte er einen jugendlicheren Eindruck gemacht. Oder gerade deshalb? „Du fragst dich sicher, warum nicht alle Flugplattformen der Sarieliten diesen Ort verlassen haben.“
Der Samaelit war konsterniert über Haakons Annahme, brannte ihm doch eine viel dringlichere Bitte auf den Lippen. Dennoch nickte er, weil er den Eindruck hatte, der Ab wolle ihm diese Frage beantworten.
„Ich habe sie für dich zurückbehalten, nein, für uns, verzeih.“
„Aber warum?“ Midael hatte eine Ahnung, wie die Antwort lauten würde, doch hatte er das Bedürfnis, die Worte aus Haakons eigenem Mund zu hören.
„Ich dachte, du würdest dir die letzte Schlacht gerne aus der Nähe ansehen, so wie ich. Ich bin alt, Midael, und du hättest dein Leben für die heilige Sache gegeben. Wir haben ein Recht, dabei zu sein.“
„Auch heute würde ich mein Leben noch für die heilige Sache geben, Freund Haakon, und du hast mehr als bewiesen, dass du noch nicht zu alt bist, um einem verbitterten Engel zu zeigen, was Heldenmut und Tapferkeit bedeutet. Wir werden gemeinsam der letzten Schlacht beiwohnen, doch zuerst musst du mir neue Flügel verleihen.“
Schlagartig bereute der
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