Apocalyptica
Samaelit, dass er in seiner aufkeimenden Euphorie sein Anliegen so übergangslos ausgesprochen hatte. Haakon von Melhus war bleich geworden, und das kalte Licht in der großen Halle verstärkte den Eindruck zusätzlich. Midael griff instinktiv nach dem Arm des alten Mannes, um ihn zu stützen.
„Als ich dir anbot, dir neue Schwingen zu geben, war ich der Überzeugung, dass du ablehnen würdest, sonst hätte ich diesen Vorschlag nie gemacht, mein Freund. Dein Wunsch könnte dich töten. Wir haben so etwas schon sehr lange nicht gemacht und können auch nicht sagen, wie ein Engel in deinem Alter auf die fremden Schwingen reagiert. Es ist ein unabsehbares Wagnis.“
Midael versicherte sich, dass Haakon nicht straucheln würde, ehe er ihn losließ. Dann richtete er sich zur vollen Größe auf und machte ein paar gemessene Schritte rückwärts, bis er mit dem Rücken an einen der schweren Stützpfeiler der Flugplattform stieß. Mit einer fast zärtlichen Geste berührte seine Handfläche den kalten vibrierenden Stein. „Ich habe keine Angst mehr, Haakon. Ich bin bereits gestorben, der Engel Midael ist tot. Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich will die letzten Tage nicht tatenlos abwarten, bis die Menschheit unwiderruflich ausgelöscht ist. Sollte sie gehen, dann gehe ich mit ihr, mit erhobenem Schwert und stolzgeschwellter Brust. Willst du mir das vorenthalten, Freund?“
Haakon von Melhus sah den Samaeliten lange an, dann straffte sich sein Körper, und er machte eine einladende Geste. „Komm!“
„Wir werden alle sterben!“ Vor Verzweiflung fegte Velja den schweren Kelch vom Tisch. Mit einem lauten Scheppern kam er in der Nähe von Nullos Rollstuhl zur Ruhe.
„Na endlich, dann müssen wir wenigstens dein ewiges Gejammer nicht mehr hören.“ Der greise Kardinal mit der schweren Brille, die seine Augen unnatürlich groß erscheinen ließ und ihm das Aussehen einer Eule verlieh, hatte sich in seinem fahrbaren Sessel weit nach vorne gelehnt, um seine Wut zum Ausdruck zu bringen. Die schweren goldenen Masken der drei Männer im Raum waren achtlos auf dem Tisch, der den Ratssaal dominierte, abgelegt. Der Adler, der Löwe und der Stier, Symbole dreier der vier Cherubim, die Gott am nächsten standen. Eine vierte Maske, die mit dem Antlitz eines Menschen, hatte es nie gegeben. Der Pontifex Maximus hätte sie tragen sollen, doch etwas war schiefgegangen. Vor langer Zeit hatten diese Masken eine Bedeutung gehabt. Damals, als die drei Männer die Dogmen der Kirche entwarfen, ihre „Geschichte“ verfassten und so das größte Lügengebäude aller Zeiten errichteten. Sie waren schon immer hier gewesen. Hatten sich die Technologie vergangener Zeitalter zunutze gemacht, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Sechshundert Jahre lang hatten sie eine Welt geschaffen, die sie gemeinsam erdacht hatten. Unzählige Male hatten sie die Identität gewechselt, Zeugen beseitigt und ihr Lügengespinst ausgebaut, um von sich abzulenken. Nun hatte Johannes zu Gemmingen einen Fehler gemacht. Er war unaufmerksam gewesen und in eine Falle getappt, die er vor Jahrhunderten schon gekannt, nach so langer Zeit jedoch vergessen hatte. Sie hatten den Engeln mit Hilfe vorsintflutlicher Technologie Mächte verliehen, die sie selbst nicht ganz verstanden. Er wusste, dass Midael nun die Wahrheit kannte. Zumindest große Teile davon. Er hatte sie in große Schwierigkeiten gebracht. Daher traf die Nachricht von der Flucht des Engels zu Gemmingen wie eine Dampframme. Sofort hatte er nach seinen Verbündeten gerufen, um die Situation zu besprechen, doch schienen sechshundert Jahre Lebenserfahrung nicht die entsprechende Weisheit mit sich zu bringen. Sie steckten in einer Sackgasse, aus der es nach Ansicht Nullos nur einen Ausweg geben konnte.
„Wir brennen alles nieder und fangen von vorne an. Die verdammte Traumsaat hat schon so oft für etwas herhalten müssen, was sie nicht getan hat, warum nicht auch diesmal?“
„Wollt ihr wirklich alles zerstören, nur um einen einzigen Engel loszuwerden?“ Johannes zu Gemmingen konnte nicht glauben, was er hörte. „Was macht ihn in euren Augen zu einem solchen Schreckgespenst, dass das zu rechtfertigen wäre?“
„Vielleicht nimmt ihn ja keiner ernst, und sie bringen ihn einfach um für seine ketzerischen Behauptungen“, warf Velja ein.
„Er hat zwar keine Flügel mehr, aber er ist immer noch ein Engel, vergiss das nicht“, konterte Nullo.
„Er ist außerdem nicht allein“, fügte zu
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