Apollonia
bisjen länger wie du, sagte sie überlegen.
Naja, mit irgendwas musste man sich ja auskennen.
– Aber mach dir keine Sorgen, sagte Lydia und rauchte und kaute Kaugummi in einem. Bei dir meint der das, glaube ich, wirklich ernst, kann sein. Im Moment jedenfalls kann der ja gar nix anstellen, jetzt sitzt der ja fest, haha!
Falls Lydia mich hatte beruhigen wollen, dann hatte sie mich jetzt erst recht verrückt gemacht. Was sollte dieses dumme Geschwätz?
Mein Jim und es nicht ernst meinen. Wegen mir war er jetzt hinter Gittern! Lydia war doch nur neidisch, an so einen Jungen kam sie gar nicht ran. Ich beschloss, gar nicht erst hinzuhören, Lydia Kosslowski, was wusste die denn schon?
– Willst du ihn denn mal besuchen?, fragte sie.
– Wie?! WIE denn??! Das geht doch gar nicht, oder?
Lydia lachte schon wieder und dehnte ihre Antwort übertrieben hinaus.
– Mit einer Flasche Asbach geht alles.
– Geht auch Stonsdorfer oder Wachholder oder Bommerlunder oder Korn oder Dornkaat oder Kümmel?
– Asbach ist besser, da stehen die drauf. Für Asco und so.
– Geht klar. Kriege ich hin! Lydia – wenn du das machen könntest, echt, wenn du das hinkriegen könntest, Lydia, das wäre so … so … also, das wäre so toll von dir … da wäre ich so …
– Pfft. Kleinigkeit.
Lydia Kosslowski. So hatte ich sie noch nie gesehen. Eine Helferin in der Not. Man möchte beinahe sagen: eine Freundin. Ein Mensch, der mich verstand, der schon in die Abgründe des Lebens geblickt hatte, Lydia, ich musste aufhören mich über sie lustig zu machen, und dann würde ich sie noch mal befragen müssen, wieso sie Jim leichtfertig nannte. Aber jetzt musste ich nach Hause und den Asbach beschaffen – und – was noch? Einen Pass – vom letzten Urlaub in Österreich! Und – eine Verabredung treffen für morgen Abend um sechs Uhr, um von hier aus auf die Struderlehe zu wandern.
Ich war unendlich, unendlich aufgeregt. Morgen sollte ich meinen Jim wiedersehen, meinen wunderbaren, herrlichen, geliebten Jim, und das hatte ich nur einem Menschen auf der Welt zu verdanken: der einzigartigen Lydia Kosslowski.
Ich wusste, dass meine Großmutter Apollonia sich in Frankreich wohlgefühlt hatte, denn es hatte schon immer etwas Besonderes mit dem Wort Frankreich gehabt. Sobald sie es hörte oder aussprach, machte sie ein Gesicht wie in der Marienandacht, und sie sagte es so besonders, als müsste sie selbst die Erinnerung so behutsam anfassen, als könnte diese in ihrem Inneren an der eigenen Heiligkeit zerbrechen. Sie sprach es »Frankreych« aus und meinte, die Sprache der Franzosen sei so wunderschön wie eine Melodie, als würden die Franzosen immerzu singen. Es war so verwunderlich, Apollonia so bewundernd reden zu hören, denn Apollonia bewunderte nun mal nichts und niemanden.
Mein Urgroßvater Gustav war bei der Schlacht an der Somme dabei gewesen und als einziger heil wieder nach Hause gekommen. Berthold dagegen war an den Bauchschüssen elendiglich verreckt, und wer sonst noch auf dem alten Kriegerdenkmal steht und unsere Dorfnamen trägt, den hatte es auch erwischt, allesamt in Frankreich. Denn Frankreich war schon immer der Erbfeind gewesen, das hatte der Dapprechter Gustav erklärt.
1928, als meine Großmutter Apollonia und mein Großvater Klemens geheiratet hatten mit Krümelkuchen und Kirschlikör, da zogen sie in das kleine Fachwerkhaus vom Dapprechter Gustav und seiner Frau Kathrein, und sie hatten ein Schlafgemach mit einem Bett und einem Kleiderschrank, aber da war nicht viel drin. Jeder ein, zwei Hosen oder einen Rock und ein Hemd zum Wechseln und noch ein Kleid für am Sonntag und noch zwei leinene Bettbezüge, und geschlafen haben sie im Unterhemd. Sie hatten noch eine Küche mit einem Tisch und zwei Stühlen und einem Bänkelchen, dem Kohleofen und einem Küchenschrank und den Waschkessel. Dazu zwei Kühe und zwei Schweine und fünf Hühner.
Mein Urgroßvater Gustav stand mit diesen Hühnern jeden Morgen auf und grüßte den Herrgott und betete und ging in den Stall und fütterte das Vieh und tränkte es und machte den Stall sauber, fuhr den Mist auf den Misthaufen und schichtete ihn akkurat aufeinander. Erst dann setzte er sich in die Küche und trank einen richtigen starken Kaffee und frühstückte mit seiner Frau Kathrein.
Mein Großvater Klemens drehte sich derweil noch dreimal im Bett herum.
Es sei nun mal nicht viel Arbeit auf dem Zimmerplatz, sagte er. Die Steinbrüche im Westerwald hatten
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