Applebys Arche
das ist der Norden. Ganz anders die Südsee. Nord
ist Nord und Süd ist Süd, und nie soll’n die zwei sich begegnen. Ich hoffe, Sie
verzeihen, wenn ich das Dichterwort abwandle, Sir. Aber ich sage mir immer, das
Poetische ergibt sich bei einem kontemplativen Menschen wie von selbst. Sie haben
nicht zufällig Wordsworths Spaziergang gelesen?«
»Doch.«
»Das freut mich zu hören, Mr. Appleby. Ein Buch, über das man immer
wieder von neuem nachdenken kann. Oft nehme ich es des Abends zur Hand. Aber
offenbar kennt es niemand sonst auf der Insel. Ich hoffe, wir finden
Gelegenheit, einmal unsere Gedanken darüber auszutauschen, Sir. Kennen Sie auch
Blairs Grab ?«
»Leider nein.«
»Ah.« Mudge war enttäuscht. »Oder Youngs Nachtgedanken? Sehr meditativ, Mr. Appleby, ein sehr meditatives Werk.«
»Nein – nur die Teile, die im Lesebuch stehen.«
»Dann soll es mir eine Freude sein, Ihnen meine bescheidene
Bibliothek zur Verfügung zu stellen, Sir. Und ich glaube, ich darf sagen, wenn
Ihnen der Spaziergang gefallen hat, dann werden auch
die beiden anderen nach Ihrem Geschmack sein. Ein Trost, finde ich, bei der
begrenzten Gesellschaft, die wir hier haben. Wenn Sie so freundlich sein
wollen, Mr. Appleby – das gestreifte Handtuch.«
Daphnis und Chloe und die zierlich posierende Venus wurden
nacheinander kräftig abgerieben. Appleby wartete einen Augenblick, dann fragte
er: »Sind sie denn alle gleich, Mr. Mudge? – die Weißen, meine ich. Ist die
Moral bei allen gleichermaßen lax?«
Das war eine schöne Frage, die Mudge sichtlich zu schätzen wußte.
»Wie gesagt, ich bin überzeugt, daß es mit der Umgebung zu tun hat. Das soll
nicht heißen, daß sie nicht alle schon mit frivolen Absichten hier ankommen,
Mr. Appleby – von denen nimmt keiner das Leben ernst, kein einziger. Aber
irgendwie haben sie, wenn sie hier anlangen, doch ein wenig mehr Verstand als
später. Nehmen Sie zum Beispiel Mr. Jenner.«
»Ah«, sagte Appleby eifrig. »Der Mann, der George getreten hat.«
»Das wundert mich nicht, Sir. Nun, Mr. Jenner ist noch nicht ganz so
lange hier wie manche andere; er kam mit der zweiten Gruppe. Und ich hatte den
Eindruck, Mr. Jenner hat Verstand.«
»Er ist vernünftiger als die anderen? Er redet vernünftig?«
Mudge schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Appleby, soweit würde ich dann
doch nicht gehen. Aber er macht auf mich den Eindruck eines Mannes, der sich
Gedanken macht.«
»Verstehe.« Appleby blickte nun finster drein. »Er könnte jemand
sein, der ein Ziel verfolgt, und die anderen leben anscheinend nur in den Tag
hinein?«
»Genau das – und treffend formuliert, wenn ich mir erlauben darf,
das zu sagen, Sir. Aber ich würde es nicht auf Mr. Jenner beschränken; es gibt
noch ein oder zwei andere in der zweiten Gruppe, von denen man denselben
Eindruck hat. Um es mit einer Redewendung auszudrücken, Mr. Appleby, man könnte
fast denken, daß sie etwas im Schilde führten – daß sie zu anderem hier sind
als zu schändlichem Müßiggang. Nicht von Natur aus Lotosesser; nicht die Art
von Leuten, die sich am Saft des Mohns berauscht. Als Mann der Dichtkunst, Mr. Appleby, werden Sie wissen, worauf ich anspiele.«
Appleby hatte begonnen, sich eine Pfeife mit Mr. Heavens
ausgezeichnetem Tabak zu stopfen. Nun steckte er sie wieder ein. »Mr. Mudge«,
fragte er unvermittelt, »sind Sie ein ehrlicher Mann?«
Mudge wirkte nicht gekränkt; nur schien er sich der Antwort nicht
sicher. »Wer kann das sagen? Wir sind allzumal Sünder, Mr. Appleby; wer von der
eigenen Moral spricht, wird nie Gewißheit haben. Aber mit aller gebotenen
Vorsicht würde ich doch mit Ja antworten.«
»Und fühlen Sie sich als Untertan Seiner Majestät des Königs?«
Diesmal war Mudge verblüfft – doch die Antwort kam mit Nachdruck.
»Unbedingt, Mr. Appleby. Sollte ich meine politische Einstellung beschreiben,
so würde ich sagen, ich bin Royalist – eindeutig. Aber darf ich fragen …«
»Wir leben hier in zweifelhafter Gesellschaft, Mr. Mudge, und wir
beide sollten uns versichern, daß wir uns aufeinander verlassen können. Mehr
will ich im Augenblick nicht sagen. Glauben Sie mir, ich stehle Ihnen Ihre Zeit
nicht aus Neugier. Aber wenn Sie es mir gestatten, würde ich gern noch ein oder
zwei weitere Fragen stellen.«
Mudge ließ Daphnis, Chloe und Venus unter einem frischen Unterhemd verschwinden.
Als sein Gesicht wieder zum Vorschein kam, blickte es wach und
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