Aprilgewitter
Bremen.«
»Du tust gerade so, als würdest du Onkel Thomas und Dorothea nur ungern besuchen.«
Nathalia schüttelte vehement den Kopf. »Natürlich freue ich mich auf die beiden! Aber Bremen kenne ich in- und auswendig. Dort kann ich mich auch mal hinsetzen und für das neue Schuljahr lernen. Aber hier in Berlin will ich etwas erleben.«
»Also gut, dann sorgen wir dafür, dass du dich nicht langweilen musst. Aber pass auf! Du darfst Mary, wenn wir in ihren Salon kommen, nicht wie eine gute alte Freundin begrüßen, sondern wie die Besitzerin eines ganz normalen Modesalons«, begann Lore.
»Und warum?«
Lore dachte einen Moment nach, beschloss aber nach kurzem Abwägen, dass das Mädchen alt genug war, um ihre Situation zu begreifen. »Es geht um Malwine! Sie hat einen Haufen Lügen über mich erzählt, die von den Leuten geglaubt werden. Du weißt ja, dass eine Dame von Adel nicht für eine Schneiderin arbeiten darf, ohne ihr Ansehen zu verlieren. Aus diesem Grund arbeite ich ja nur heimlich für Mary, doch dieses Biest tut so, als würde ich den lieben langen Tag bei ihr im Atelier sitzen und nähen. Außerdem erzählt sie üble Lügen über meine Vergangenheit. Deswegen hat mich die Frau von Fridolins Bankdirektor etliche Wochen lang nicht empfangen.«
»Dann ist sie eine dumme Kuh!«, urteilte Nathalia und streckte der ihr unbekannten Frau die Zunge heraus.
»Besonders klug finde ich sie wirklich nicht. Dennoch hat mir die Sache sehr geschadet. Ich bin deswegen schon mit Fridolin ins Streiten geraten.« Lore lachte zwar, verspürte aber noch immer eine gewisse Bitternis.
»Aber wird Mary nicht enttäuscht sein, wenn ich sie behandle, als wäre sie nicht unseresgleichen?«, wollte Nathalia nun wissen.
»Du sollst sie so höflich behandeln, wie es ihr als Besitzerin des Modesalons zukommt.« Lore hoffte, dass ihre Mahnung bei dem Mädchen ankam, denn wenn Nathalia wollte, konnte sie sich auf eine so schockierende Weise benehmen, dass Frauen höherer Stände reihenweise in Ohnmacht fielen.
Sie hätte sich jedoch keine Sorgen zu machen brauchen, denn Nathalia spielte die kleine Dame und behandelte Mary und deren Näherinnen mit vollendeter Höflichkeit. Sie stand still, wenn Maß genommen werden musste, wählte genau die Stoffe, zu denen Lore ihr riet, und fiel nur einmal ein wenig aus der Rolle, als sie forderte, das erste der bestellten Kleider müsse am nächsten Tag fertig sein.
Um Marys Lippen zuckte es amüsiert. »Gnädiges Fräulein, ich fürchte, das wird nicht gehen. Sie sollten sich selbst und uns die Gelegenheit geben, das Kleid wenigstens ein Mal anzuprobieren. Morgen Nachmittag könnten wir sehen, ob es passt. Ist dies der Fall, können Sie das Kleid gleich mitnehmen. Sonst müssten Sie ein wenig warten, bis wir mögliche Änderungen gemacht haben.«
»Nun, wenn es nicht anders geht! Wo wollen wir denn jetzt hin, liebe Lore, in den Zoologischen Garten mit seinen Tieren oder doch besser in die Nationalgalerie zu den alten Meistern? Wie Sie wissen, würde ich gerne beides sehen.« Im Allgemeinen sagten Lore und Nathalia Du zueinander, doch jetzt wollte die Kleine beweisen, wie wohlerzogen sie war.
Eine Kundin, die sich ein wenig ärgerte, weil sie wegen des Mädchens hatte warten müssen, wandte sich an Mary. »Wer ist denn dieses Kind, das Frau von Trettin bei sich hat?« Sie sprach leise, aber nicht leise genug für Nathalias empfindliche Ohren.
»Liebste Lore, wollen Sie mich vorstellen, oder muss ich es selbst tun?«, fragte sie lächelnd.
»Natürlich mache ich das!« Lore lächelte die neugierige Dame an. »Frau von Schneider – Komtess Nathalia Sophia Alexandra Elisabeth von Retzmann aus Bremen.«
Das Mädchen knickste anmutig und musste sich dabei das Lachen verkneifen. Die Frau hieß so, wie missgünstige Damen Lore bezeichnet hatten, nämlich Schneider. Nathalia brachte es jedoch fertig, ernst zu bleiben, und wandte sich anschließend an Lore.
»Wir sollten jetzt gehen, meine Liebe. Auf Wiedersehen, Mrs. Penn, auf Wiedersehen die Damen.« Damit fasste sie nach Lores Hand und führte ihre große Freundin zur Tür. Eine der Näherinnen Marys öffnete ihnen, und kurz darauf konnten die im Modesalon zurückgebliebenen Frauen durch ein Fenster sehen, wie die beiden mit einer Droschke losfuhren.
Frau von Schneider platzte schier vor Neugierde. »Mrs. Penn, Sie kennen doch Frau von Trettin von früher. Wissen Sie, wer dieses Kind ist? Den Namen von Retzmann habe ich noch nie
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