Aprilwetter
dieser allgegenwärtigen Freundlichkeit. Und er merkte, dass er den Anblick des allgegenwärtigen Kitsches nicht vertrug. In den Restaurants und Läden, auf den Werbeschildern, an den Wänden, überall war eine ins groteske überzogene Fratze der Fröhlichkeit abgebildet, ob als Tier, als Mensch, als Ding, Wurst, Auto oder Kaktus, alles grimassierte grell und laut und schrie ihn an, er solle es lieben.
Aber das war nur so in den Städten und Siedlungen. Die Landschaft war leer und weit und ohne Comicfiguren. Er erholte sich auf den Fahrten vom jeweils letzten Aufenthalt.
Für ihn hätte dieses Leben ewig so weitergehen können. Er fühlte sich anonym, befreit von seiner Verantwortung für sich, für die Musik, für Daniel oder sonst irgendwas, hatte jeden Tag ein Ziel vor sich, das nächste entlegene Nest, in dem Walter irgendeinen Kneipier bitten würde, ohne Gage spielen zu dürfen, hatte nächtens die Aussicht auf zwar verstohlenen, aber von Tishs verspielter Schamlosigkeit befeuerten Sex, er lernte was dazu und machte Musik, die ihm hin und wieder richtig gut gefiel. Aber Nancys Studienanfang rückte näher, und Walters Blicke schienen Benno immer eindringlicher und zweifelnder zu werden. Ahnte er was? Kannte er seine Tochter so gut, dass er nur zwei und zwei zusammenzählen musste? Oder war Nancy das Liebesglück ihrer Schwester auf die Nerven gegangen und sie hatte ihrem Vater einen Floh ins Ohr gesetzt? Benno ließ es nicht drauf ankommen. In Casper, Wyoming, legte er ein aufblasbares Plastikherz auf die Schwelle ihres Wohnmobils, als Walter und die Mädchen mit dem Taxi in ein nahe gelegenes Outlet-Center gefahren waren, startete den Wagen und fuhr nach Süden.
—
Daniel schnarchte noch, als Benno am nächsten Morgen aufwachte, aber Christine lag nicht mehr neben ihm. Er hörte sie im Aufenthaltsraum rumoren und drehte sich auf die andere Seite, um noch ein paar Minuten weiterzuschlafen. Aber dazu kam er nicht, denn kurz darauf stand sie da, mit drei Tassen Tee auf einem kleinen Tablett, geduscht, mit nassen Haaren, angezogen und lächelnd. »Guten Morgen«, sagte sie.
»Willst du uns heiraten?«, sagte Daniel und griff nach einer der Tassen.
»Geht das denn?« Sie nahm einen Schluck.
»Oder wir adoptieren dich«, schlug Benno vor, »oder du uns.«
Sie setzte sich auf die Bettkante und sah die beiden an. »Einverstanden.« Sie lächelte.
»Machst du mit uns Urlaub? Wir laden dich ein«, sagte Benno, und sie versprach, sich freizunehmen, wenn man sie gehen ließe, als Daniel und Benno erklärt hatten, dass sie übernächste Woche einfach losfahren wollten, nach Frankreich, ans Meer, in die Bretagne und dann vielleicht nach Süden, nach Spanien, zumindest ein Stück weit die Atlantikküste abwärts.
Sie frühstückten noch zusammen, dann rief Benno ein Taxi für Christine, denn sie musste zurück zur Arbeit. Sie hatte Spätschicht und durfte den Zug nicht verpassen.
—
Souad und Valerio giften sich an, sie knallt das Tablett lauter als sonst auf die Theke, er schaut geflissentlich weg, wenn sie mit ihm spricht, das kann Benno nicht gebrauchen. Was soll das? Die beiden haben sich noch nie gestritten. Sie sind Profis.
Eine Zeit lang schaut er sich das alberne Treiben an, dann nimmt er Souads und Valerios Hände, küsst beide in die Innenflächen und legt sie ineinander. »Ruhe jetzt«, sagt er, und sie starren ihn nach dieser kleinen Aufführung so entgeistert an, dass er lachen muss. Valerio ringt sich ein Grinsen ab, Souad schüttelt den Kopf und wischt die Theke.
Später, als Christine kommt und fragt, ob er sie begleiten wolle, ein paar Einkäufe in der Stadt machen, sich umsehen, wieder heimisch werden, da ist so wenig los, dass er das Café getrost den beiden überlassen kann. Zumal seine kleine Versöhnungsfeier funktioniert hat.
Es ist warm, und sie trödeln wie ein Ehepaar durch die Altstadt. Christine schaut in jedes dritte Schaufenster, egal ob darin Weinflaschen, Kleider, Schuhe, Schrauben oder Ledersachen sind, es ist, als wolle sie einen tiefen Zug Stadt und Läden und Warenangebot zu sich nehmen, um die Orientierung wiederzubekommen.
Es ist Juli und die Stadt voller bummelnder, entspannter Passanten – es fühlt sich fast wie ein Samstag in Italien an –, jedermann ist draußen. In solchen Momenten erkennt Benno, dass er im Frieden lebt, an einem privilegierten Ort in einer privilegierten Zeit, die Not war früher oder ist anderswo, Hunger, Angst und Gewalt sind hier nur
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