Aprilwetter
hören, jede Berufsgruppe, überhaupt jede Gruppe, muss unbedingt ihren weiblichen Anteil extra herausgestellt kriegen, aber wenn man mal hinterherhorcht, dann fällt einem auf, dass es nur bei den positiv besetzten Bezeichnungen so ist. Von Verbrecherinnen hast du noch nie was gehört, oder? Nicht mal Raucherinnen stehen irgendwo auf dem Zettel.«
»Stimmt«, sagt Benno.
»Oder Gewalttäterinnen. Gibt’s nicht. Es gibt nur Opferinnen.«
Der Cappuccino ist fertig. »Hier«, sagt Benno, »dein Heißgetränk.«
»Danke«, sagt Münter und schaut sich um, als suche er nach einem anderen Gesprächspartner, aber das tut er nicht. Er redet hier mit niemandem außer Benno.
Seit er wieder hier ist, hat Benno eine Melodie im Kopf, einen Walzer, der gemächlich schwingt, mit ansteigenden und wieder abfallenden Terzen, eine wehmütige Musik, die gut zu einer Filmszene vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts passen würde: eine Hochzeit auf dem Lande, ein Sommerabendidyll, ein melancholisches Picknick vor dem Abschied in den Krieg. Er kennt die Melodie nicht, sie muss ihm selbst eingefallen sein. Wenn er jetzt die Jungs von der Carson Lounge um sich hätte, dann wäre das ein schönes Stück Musik.
Was immer Münter in der letzten Minute gesagt haben mag, Benno hat kein Wort davon verstanden. Er hat im Kopf musiziert. Seit Jahren zum ersten Mal wieder.
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Durch die Tour mit der Summers-Family hatte Benno sich nicht nur ein Repertoire angeeignet, sondern auch Übung in der Disziplin bekommen, die bei Country für Gitarristen die wichtigste ist, nämlich sich unaufdringlich einzufügen und die Fühler auszustrecken nach jedem Instrument, eine Art Netz zu spinnen und aufrechtzuerhalten, das jeden der Mitspieler einbezieht und alles mit allem verbindet. In gewisser Weise hatte er das schon mit Daniel so gehalten, aber sie waren nur zu zweit gewesen, im Quartett oder in größeren Besetzungen ist diese Aufgabe anspruchsvoller, aber, wenn man sie meistert, auch befriedigender.
Schon in Denver sah er sich gezielt in den Musikläden nach Aushängen um, auf denen Musiker gesucht wurden, und in El Paso stieg er in eine professionelle Tourband ein, die zwar nicht glänzend verdiente – zu sechst mit Mixer reichen auch bessere Gagen nicht für große Sprünge, aber er war nicht aufs Geld angewiesen, sondern spielte aus Begeisterung. Begeisterung für diese lässige Art des Musizierens, aber auch für die Tatsache, dass er sich nicht mehr wie ein Tourist vorkam, sondern wie ein Mensch. Ein Musiker. Der nirgends lange bleibt, hier und da eine alleingelassene Ehefrau abkriegt, die immer gleichen Witze mit den Kumpels macht und in einer Wolke aus Abgas, Staub und Alkohol über dem Boden schwebt, den er immer nur für einen Abend berühren muss. Der amerikanische Traum für Musiker.
Je länger die Touren waren, desto zügiger leerte er die Gläser und winkte die nächsten vom Barkeeper herbei. Das brauchte er. Zur Horizonterweichung.
Eines Abends in Albuquerque griff ein schnurrbärtiger alter Mann mit glasblauen Augen und verwischten Gesichtszügen an Benno vorbei nach dessen Drink, nahm ihn, setzte an und leerte ihn mit einem Zug.
»Cheers«, sagte Benno, der keine Lust auf den Streit hatte, den der Alte offenbar provozieren wollte.
»Auf dich«, sagte der, wischte sich die Lippen und streckte Benno die Hand hin. »Ich bin Helmut, und der nächste geht auf mich.« Er winkte dem Barkeeper und hob zwei Finger.
Benno hatte keine Zeit, sich zu wundern, dass er einen Deutschen hier traf, denn jetzt hustete der Alte, das schien ihn an etwas zu erinnern, und er zog eine Schachtel Zigaretten hervor, hielt sie Benno hin, zündete sich selbst eine an und erklärte, er habe mal genauso gut gespielt wie Benno, bevor die Gicht seine Finger lahmgelegt hätte, und mache ihm deshalb ein Angebot: Für den Preis eines Erster-Klasse-Tickets nach Frankfurt wolle er ihm eine 59er Strat verkaufen, die er selbst von Robbie Robertson habe und nur an einen weitergeben wolle, der es wert sei.
»Ich muss die vorher spielen«, sagte Benno.
»Kannst du«, sagte Helmut und trank sein Glas leer. »Komm mit.«
Der Dodge Pick-up, den sie bestiegen, war ebenso filmreif wie der Trailerpark, an dessen äußerstem Rand Helmut einen aufgebockten Wohnwagen aufschloss. Allerdings nur, wenn man an Filme von Wenders oder Jarmusch dachte, Hollywood hat für diese Sorte bewohnbaren Müll kein Auge. Auf der Fahrt trank Helmut aus einer Flasche, die in einer braunen
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