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Aprilwetter

Aprilwetter

Titel: Aprilwetter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Stück weit ausschreiten und muss nicht gleich wieder vor irgendeiner Hauswand die Richtung wechseln. Er ist durcheinander.
    Der Gedanke, wieder Musik zu machen, ist auf einmal verheißungsvoll, er fühlt sich an wie Durst in dem Moment, wenn man die Flasche aufschraubt.
    Wenigstens das Rauchen sollte ich wieder anfangen, denkt er, als er die Brücke überquert und einen Kahn voller Studenten darunter verschwinden sieht, irgendwas brauch ich, irgendwas Verbotenes, Schädliches, ich muss mir zeigen, dass ich wieder normal bin. Kein Roboter, kein Asket, der für ein Leben im Jenseits spart, sondern ein Mensch, der jetzt, solange er auf der Welt ist, nimmt, was ihn erfreut.
    Christines Nähe, ihre Gegenwart direkt über ihm, mitten in seinem Alltag, und die Rückkehr der Musik in sein Inneres sind zur gleichen Zeit aufgetaucht. Das ist kein Zufall. Vielleicht ist Christine noch immer so etwas wie eine Muse, die ihn in Bewegung setzt, sodass die Roboterglieder auf einmal knirschen und quietschen – vielleicht springen schon die ersten Nieten vom Metallpanzer ab. Der Walzer war das Ständchen des Troubadours unterm Balkon seiner Liebsten.
    Märchensülze, denkt er, ich muss überdreht sein, solchen lyrischen Schund zu denken, Einen Songtext für Tammy Wynette.
    Aber Christine hat ihn auf den Mund geküsst. Und in Biarritz, in dieser Regennacht, hat sie nach seiner Hand gegriffen. Wer sagt denn, dass das im Schlaf geschah? Es war vielleicht ein Zeichen gewesen. Das Zeichen, dass er zu ihrer Lust gehören sollte, dass sie ihn nur nicht tiefer einbeziehen konnte, weil Daniel da war, dass sie ihn meinte, er war ihre Hand gewesen, die Hand zwischen ihren Beinen, sie hatte ihn mit der anderen an deren Tun angeschlossen. So hatte er nie darüber nachgedacht. Wieso nicht? Weil er aufgegeben hatte? Weil er sie Daniel auf dem Silbertablett überreicht hatte, indem er so eilig in den Zug gestiegen und nach Hause gefahren war?
    Heldenhaft war das nicht gewesen. Eher feige. Er hatte in Panik die Segel gestrichen, weil er den Gedanken an Christines vielleicht verletzten, vielleicht erstaunten, vielleicht beschämten oder verärgerten Blick nicht ertragen konnte, den Blick, den sie ihm oder Daniel oder ihnen beiden zugeworfen hätte, hätten sie vor ihr gestanden als doppelt personifizierter Vorwurf. Ja, es war feige gewesen. Ebenso feige wie die endgültige Flucht wenig später.
    —
    Er war auf der Bahnhofstreppe doch irgendwann eingeschlafen und von zwei Polizisten geweckt worden. »J’attends le train«, hatte er gestammelt, und sie ließen ihn, nach einem Blick auf ihre Armbanduhren, in Ruhe. Sie schauten beide auf ihre Uhren, streckten beide die linke Hand aus dem Uniformärmel und richteten den Blick darauf, synchron wie ein kleines Popballett.
    Er wusch sich im Zug, dann schlief er bis Lyon, wachte nur kurz auf, schlief weiter bis Straßburg und fühlte sich den Rest der Reise elend, kaputt, ekelte sich vor dem Geschmack der Parisiennes, von denen er unterwegs viel zu viele rauchte, hustete und wünschte sich, er könnte noch mal weinen. Und er dachte an Daniel, der jetzt vielleicht erschöpft und wieder glücklich in Christines Arm lag und sich fragte, ob er noch ein drittes Mal schaffen würde.
    Von Straßburg fuhr er nach Karlsruhe, von dort nach Stuttgart und von dort die letzten fünfzig Kilometer mit der Lumpensammlerbahn, die in jedem Nest hielt und fast eine Stunde brauchte. Es war Abend, als Benno endlich ankam.
    Und als er aus dem Taxi stieg, sah er den goldenen Benz am Straßenrand und unterdrückte den Impuls, umzudrehen und gleich wieder einzusteigen. Er nahm seine Tasche und ging auf das fettgrüne, hässliche Haus zu, wollte seinen Schlüssel aus der Tasche holen, als die Tür sich öffnete und Christine darin stand, ihn ansah, ernst, den Kopf schüttelte und ihm ihre linke Hand entgegenstreckte. Das Taxi fuhr hinter ihm los, er hörte das Nageln des Dieselmotors, den Wechsel vom ersten in den zweiten Gang und, etwas weiter weg, den vom zweiten in den dritten. Erst jetzt ging er auf Christine zu, nahm ihre Hand mit seiner linken und ging mit ihr ins Haus. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. Er sah sie nicht an.
    »Wo ist Daniel?«, fragte er, als er das Gepäck im Flur stehen sah, ungeöffnet, die beiden mussten vor Kurzem erst hier angekommen sein.
    »Oben«, sagte sie. »Er schläft. Er ist die ganze Strecke gefahren.«
    Benno konnte sich nicht entschließen, sein Gepäck abzustellen, stand da, als überlege

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