Aprilwetter
dieser Frage falsch sein könnte, wieso antwortet sie nicht, wieso zieht sie ihre elektrische Hand wieder zurück und legt sich das kaum noch feuchte Tuch aufs Gesicht? Das Tuch hat eine Mulde über ihrem Mund. Diese Mulde bewegt sich jetzt: »Ich bin am nächsten Tag wieder ausgezogen.«
»Wann?« Sinnlose Frage.
»Am Abend, als er mir deinen Zettel gezeigt hat.«
»Und wieso?«
»Weil ich es nicht ertragen konnte, dass ich euch auseinandergebracht habe. Ich konnte Daniel nicht in die Augen sehen, mir selber nicht, ich konnte Daniel, der am Boden zerstört war, nicht mal trösten, ich hätte selber Trost gebraucht, ich hab einfach alles stehen und liegen gelassen und bin zu einer Freundin gezogen.«
»Hat er das verstanden? Hast du es ihm irgendwie erklärt?«
»Ich bin wortlos abgehauen. Wie du.«
»Und später? Hast du es ihm irgendwann erklärt?«
»Er hat es nicht verlangt. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Er hat nie verlangt, dass ich ihm das ins Gesicht sage.«
»Was genau?«
»Dass ich dich wollte. Nicht ihn. Ihn hätte ich nur in Kauf genommen, um dich nicht zu verlieren. Ich hätte es zu dritt versucht, weil ich wusste, dass ich nicht zwischen euch geraten darf, aber als du weg warst, war alles weg.«
—
Irgendwas hätte passieren müssen, hätte gesagt werden müssen nach diesem Satz, aber es blieb still, das Tuch auf Christines Gesicht blieb liegen, Benno saß da und horchte ihren Worten hinterher, und von draußen sägte der Sound eines Mopeds herein. Jetzt, nachdem es verschwunden ist, vielleicht den Berg hinauf, vielleicht stadtauswärts, hört Benno, dass im Bad ein Wasserhahn tropft.
Er weiß, dass er ein großes Gefühl haben müsste, erschüttert sein, erleichtert, verstört, eine Aufwallung von Liebe oder Scham bei sich feststellen oder den Impuls, Christine an sich zu ziehen, aber außer einem leichten, beherrschbaren Fluchtreflex ist da nichts. Er schaut sich das gestreifte Zimmer an und fühlt nichts. Vielleicht, weil die Zeit nicht stimmt. Er hätte das, was sie da eben gesagt hat, vor vierzehn Jahren hören sollen, jetzt ist er neununddreißig, ein ehemaliger musikalischer Fremdenlegionär und Säufer, der sich zwar in all den Jahren an Christines Bild festgehalten hat, aber nicht, um jetzt, all diese undeutlichen, verwischten Jahre zu spät, doch noch in ihre Arme zu fallen. Will sie das?
Er fragt nicht.
Und irgendwann klingelt das Telefon. Sie nimmt das Tuch von ihrem Gesicht, schaut sich suchend um, Benno, der den Apparat im Regal hat liegen sehen, steht auf, holt ihn und gibt ihr das Ding in die Hand. Als sie sich meldet, deutet er ein stummes »ich geh runter« an und lässt sie allein. Es ist Daniel, das bekommt er noch mit, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss zieht. Es klingt, als frage Daniel nach ihm. Christine sagt: »Keine Ahnung, vielleicht weg, oder er hat Kopfhörer auf und hört nichts. Soll ich ihm was ausrichten?«
—
Benno hat ihren Duft noch in der Nase und spürt ihre Hand noch in seiner, als er unten in der Wohnung steht und sich zu nichts entschließen kann. Nicht sich hinzusetzen, nicht die Gitarre in die Hand zu nehmen, nicht einen der Tramezzini zu essen oder einen Schluck Wasser oder Saft zu trinken, den Fernseher anzuschalten, nicht einmal die Tür hinter sich zu schließen, kommt ihm in den Sinn. Er steht einfach da und wartet darauf, etwas Größeres als Gleichgültigkeit und gelinde Überraschung zu fühlen.
Das Einzige, was sich nach und nach einstellt, ist Ärger. Auf Christine, die sich so selbstgerecht und fordernd gibt, als habe er sich zu rechtfertigen für seine Abwesenheit, als habe er ihr etwas angetan, nur weil er klarer als die beiden gesehen hatte, dass die Zeit der Tanner-&-Krantz-Doppelexistenz so oder so vorbei war, ob nun Daniel und Christine ein Paar geworden wären oder Benno und sie oder ob sie eine Zeit lang als Menage à trois überlebt hätten – die Benno-Daniel-Einheit war Geschichte ab dem Augenblick, in dem sie ihre Muse gefunden hatte.
Das ist Kitsch, denkt er, eine Frau, die einen Männerbund sprengt, das ist ein Countrysong, das ist der Inhalt von Tennessee Waltz , ein Schleimgeiger-und-Jammerlappen-Text für Leute mit Schnurrbart, aber egal, was es ist, ob Kitsch oder Tragödie, er hat es schon damals in Biarritz kapiert, als Christine ihren Dänen vernascht und Daniel seinen Kotzfladen studiert hatte. Das richtige Leben, das Leben von Tanner & Krantz war das kurze Strahlen eines Meteors gewesen, der
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