Aprilwetter
über den Platz, und ein kollektives Einatmen ging durchs Publikum, Frauen mit Kinderwagen, einkaufende Rentner, ein paar Touristen, fliegende Händler und Flohmarktleute – für einen Moment geriet die ganze Szenerie ins Schweben. Benno sah, wie der Mixer die Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte und seine Arme ausbreitete, als empfange er eine göttliche Segnung, da entstand Unruhe unter den Zuhörern, jemand rief: »Watch TV« Benno suchte den Störer – er dachte, irgendein gesellschaftskritisch aufgerüsteter Irrer –, konnte ihn nicht ausmachen in der Menge, in die Bewegung gekommen war – immer mehr Leute drängten in eine Richtung. Der schöne Moment hatte gerade mal drei Wimpernschläge gedauert. Hoffentlich keine Schlägerei, dachte er noch, als er auf h-Moll wechselte, dann sah er den Mixer winken und gestikulieren, gleichzeitig seinen Kopf zum Veranstalter neigen, der ihm irgendwas ins Ohr sagte. Sie brachen ab.
Jetzt rannten alle zu einem Waschsalon, vor dessen Eingang sich Gedränge gebildet hatte. Benno sah, als er seine Gitarre in den Ständer stellte und den Amp herunterdrehte, dass dort ein Fernseher aus der Tür getragen und auf den schnell frei geräumten Tisch eines Flohmarkthändlers gestellt wurde. Er sah, als das Gerät angeschlossen war und das Bild kam, etwas Langes, Senkrechtes, blauen Himmel, Rauch, und er hörte einen kollektiven Aufschrei, sah einen Feuerball und noch mehr Rauch. Er setzte sich auf den Bühnenboden.
Nach einiger Zeit kam Stephen, die Geige in der Hand, als hätte er sie vergessen oder sei sie etwas Nebensächliches, Banales wie eine Einkaufstüte oder Zeitung, nicht ein kostbares Instrument, und sagte: »Go. See it. I take care of the stage.«
Es herrschte ein grausiges Schweigen in der dicht gedrängten Menge, durch die sich Benno wand und drängelte, bis er die Fernsehbilder sehen konnte. Die meisten Leute weinten, aber fast alle ohne Geräusch, manche starrten auf den Bildschirm, manche hielten ihre Handys, als hätten sie vergessen, dass sie telefonieren wollten. Der eine Turm brannte, und in den zweiten flog wieder und wieder und wieder das Flugzeug durch den klaren Septemberhimmel und verwandelte sich in einen Glutball im Augenblick des Aufpralls.
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Lange Zeit schien es, als wolle niemand den Platz verlassen. Inzwischen waren noch mehr Fernseher herausgeschafft worden, und die ganze Straße stand voller Menschen in jetzt kleineren Gruppen, die sich wieder und wieder dieselben Bilder ansahen. Das Schweigen war einem Murmeln und Summen gewichen, immer wieder unterbrochen von den Schreien Einzelner, die erst jetzt dazustießen und ihr Entsetzen nicht unterdrücken konnten.
Die Band hatte abgebaut und eingeladen, die meisten der Händler ebenfalls. Benno saß mit den anderen an der Bühnenkante, Warren hielt Kate im Arm, die noch immer weinte, als wolle sie nie wieder damit aufhören, Nick rauchte, und Stephen starrte vor sich hin, als studiere er die Beschaffenheit des Bühnenbodens zwischen seinen Oberschenkeln.
»Lets leave«, sagte Nick irgendwann, und sie stiegen in ihren Truck und fuhren schweigend zurück nach Nashville. Benno fuhr, er war froh, am Steuer sitzen zu können, etwas zu tun zu haben, etwas für die anderen zu tun, denn er fürchtete, sie könnten glauben, ihn ginge das alles nichts an. Er sehnte sich nach Daniel wie nie bisher, er hätte jetzt gern mit ihm geschwiegen, diesen Schock mit ihm gemeinsam beschwiegen, nicht mit lauter Amerikanern, die ihn vielleicht von ihrem Kummer ausschließen würden. Er hatte vorher, beim Anblick der Fernsehbilder nicht geweint, jetzt bei der Erinnerung daran, weinte er.
»Hey«, sagte Nick, der neben ihm saß und legte eine Hand auf Bennos Unterarm.
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Vor Janets Haus, nachdem er alle, bis auf Warren, bei sich abgeladen hatte, nahm er die Gitarre aus dem Laderaum und klopfte aufs Blech der geschlossenen Tür, um Warren zu signalisieren, dass er losfahren konnte. Er sah dem Wagen nicht hinterher und ging die paar Meter zum Haus, er hatte Angst, Janet könnte da sein, er wusste nicht, wieso, er wusste nur, der einzige Mensch, mit dem er jetzt zusammen sein wollte, war Daniel, der weit weg irgendein unbekanntes Leben lebte, vielleicht sogar schon tot war. Benno hatte nie gelernt, mit Computern umzugehen, hatte sich nie für Internet und E-Mail, Digitalaufnahme und Samples interessiert und sich nie nach Daniel erkundigt oder umgesehen. Jetzt hätte er gern gewusst, ob er überhaupt noch lebte.
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