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Aquila

Aquila

Titel: Aquila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gifford
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weg von seinem Kamin und seinen Büchern und von der Flut seiner Gedanken. Auch seine Studenten schienen weniger abgelenkt zu sein als zu anderen, lebhafteren Jahreszeiten.
    Während er die Spätausgabe des Boston Globe
    zusammenfaltete und sie säuberlich neben Handschuhe und Schal auf seinen einfachen Holzschreibtisch legte, schlurften sie herein. Sie schnäuzten sich, lehnten ihre schäbigen Rucksäcke an die Wand und stampften den Matsch von ihren Stiefeln. Bei seiner Größe von über eins neunzig sah er auf sie herab. Mit fünfundvierzig fühlte er sich körperlich weniger präsent als seine Studenten, und sein fortschreitendes Alter machte ihm Kopfzerbrechen. Der Gedanke, dass sie mehr Zeit vor sich hatten als er, stimmte ihn nicht gerade heiter.
    Während er darauf wartete, dass Ruhe einkehrte, betrachtete er einen Augenblick lang sein Spiegelbild in einem der Fenster. Im Großen und Ganzen sah er nicht anders aus als vor zwanzig Jahren: groß und kräftig, leicht vornüber gebeugt, braunes Tweed-Sakko aus der Zeit, wo man so etwas noch trug, Halstuch, blau gestreiftes Hemd mit geknöpftem Kragen, schwere braune Hornbrille, leicht gewelltes dunkles Haar, eine Hakennase zwischen dunkelbraunen Augen, dichte
    Augenbrauen, bla bla bla. Er verlor das Interesse. Da stand er, die verkörperte Tradition in den Vierzigern, ein treuer alter Kämpfer gegen den Fortschritt. Gregory Peck in Der Scharfschütze mit einem lauernden Skip Homeier, den Frisbee hinterm Rücken … Er lächelte mit leicht zusammengekniffenen 51
    Augen und nahm die Brille ab. Er wusste, dass er ziemlich gut aussah, und dieses Wissen befreite ihn und erhöhte die Freude an seinen Vorlesungen. Es war zwar alles nur eine Illusion, aber man musste mit seinem Pfunde wuchern.
    »Guten Tag!« Er nickte seinen Studenten zu. Es schienen ungefähr fünfundzwanzig da zu sein, beinahe alle, die sich für seinen Lieblingskurs eingeschrieben hatten: Geschichte, Oberkurs, ausschließlich für Studenten mit Geschichte als Hauptfach (sonstige Interessierte nach Rücksprache mit dem Dozenten). »Die singenden Heizkörper und die Tatsache, dass es hier bald wie in einem Umkleideraum riechen wird, zeigt Ihnen, dass Harvard nicht an Engergieknappheit leidet … im Gegensatz zu seinen Bediensteten. Ich werde nun die Energie liefern, und Sie können sich einfach zurücklehnen und sie in sich aufnehmen. Ich brauche nicht zu betonen, dass Sie später auch mal dran sind.«
    »Hatten Sie das auswendig gelernt?« Sheila, eine von neun Radcliffe-Studentinnen, war bekennendes Mitglied der Frisbee-, Rucksack- und Sandalen-Generation. »Ich meine, es klang, als hätten Sie auf die Lacher vom Band gewartet.« Sie wirkte besorgt.
    »Nein, meine Beste, das ist mir eben eingefallen. So was kommt öfter vor im richtigen Leben: denken und sprechen, denken und sprechen. Man könnte sagen, die meisten von uns schreiben ihr eigenes Skript.«
    »Es war ganz sicher nicht komisch. Vielleicht sollten Sie jemanden anheuern, der für Sie schreibt.«
    Ihm gefiel dieser Haufen; er ließ sich auf den scherzhaften Ton ein. Während er zuhörte, bemerkte er hinten im Raum eine Frau
    – eindeutig keine Studentin, obwohl ihm ihr Gesicht seltsam bekannt vorkam. Riesengroße Augen, ein französisch
    geschnittener Mund, hohe Backenknochen, kurzes Haar, nasser Regenmantel. Aufmerksam saß sie in der Nähe der Tür, die Hände auf dem Tischpult gefaltet. Sie hatte ein Kleenex aus 52
    ihrer Vuitton-Tasche gezogen und tupfte sich die Nase. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr zu, dann nahm er Haltung an und trat hinter das Rednerpult. Er löste seine Rolex vom Handgelenk und legte sie aufs Pult, bevor er anfing, über Illusion und Wirklichkeit zu reden. Die beschlagenen Fenster löschten den grauen Tag draußen aus.
    »Wir leben in einer Zeit der einfachen Lösungen und der schnellen Erklärungen«, sagte er. »Innerhalb von Sekunden wird aus der Gegenwart Geschichte. Die leichtgewichtigen, mit Transistoren bestückten Handkameras des Farbfernsehens bringen uns genau an den Punkt, an dem es abgeht. Hören Sie mir gut zu: ›an dem es abgeht‹. Das ist Fernsehjargon, meine jungen Freunde.« Er lächelte gequält. »Der untersetzte Muskelprotz mit seiner Schickse im Krimi redet so, und nun rede ich wie er, und ich bin weder Polizist noch aus der Gosse.
    Man wird im Nu unterschwellig beeinflusst, und dabei spielt es keine Rolle, ob es Gassenjargon in einem Krimi ist oder John Dean in seiner

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