Aquila
»Und ihr Wissen über die amerikanische Revolution ist noch geringer als über irgendeinen anderen Zeitraum unserer Geschichte. Sie hier sind vermutlich besser informiert als der Durchschnitt der Bevölkerung. Doch ich möchte Ihnen Folgendes erklären: Die grundlegende Idee, welche die amerikanische Revolution auslöste, wird häufig missverstanden. Im Sommer 1773 schrieb Ben Franklin einen Brief an John Winthrop hier in Harvard, und ich zitiere –«
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Chandler öffnete sein Ringbuch, doch er brauchte den Text fast nicht abzulesen: »›Wie unter Freunden nicht jeder Affront ein Duell wert ist und zwischen den Völkern nicht jede Verletzung einen Krieg, so ist auch zwischen den Regierten und der Regierung nicht jeder Fehler der Regierung, jede Beschneidung von Rechten, eine Rebellion wert.‹«
Chandler lehnte sich mit der baumelnden Brille in den verschränkten Händen über das Pult und ließ seine Worte nachwirken. »Genau so war es mit Franklin und Jefferson und John Adams. Keiner von ihnen wollte einen Krieg … oder die Unabhängigkeit. Siebzehnhundertfünfundsiebzig erklärte Adams, die Idee der Unabhängigkeit werde diesseits des Atlantiks allgemein abgelehnt. Er legte Wert auf diesen Punkt und betonte, dass sowohl die amerikanischen Whigs als auch die Tories von strikter Loyalität gegenüber der Krone geprägt waren. Als es dann zum Krieg kam, so seine Worte, war es ein Krieg der Whigs, die um ihre Rechte als Engländer kämpften.
Das sind entscheidende Tatsache, die Sie im Auge behalten sollten, wenn Sie sich mit der amerikanischen Revolution befassen. Das Wort ›Revolution‹ hat mehr als eine Bedeutung.«
Er setzte seine Brille wieder auf und schob die Hände so heftig in die Jackentaschen, dass er die Knöpfe strapazierte. Er sah zur Tafel.
»Nun das zweite Wort: Verrat. Aus unserer neuen Sicht auf die Revolution ergibt sich logischerweise auch eine andere Sicht auf den Begriff ›Verrat‹. Außerdem ist Verrat ein völlig subjektiver Begriff – des einen Verräter ist fast immer des anderen Held. Man kann dem Wort Verrat nicht trauen, doch die amerikanische Revolutionsgeschichte ist voll von
selbstgerechten Beschuldigungen des Verrats. Was ist nun irreführend und was wahr? Überlegen Sie: Als das Drama begann, war es weit von einer Revolution entfernt. Nur ein Geistesgestörter konnte sich doch einen Krieg gegen die Übermacht Englands vorstellen! Diese Männer betrachteten sich 56
als Engländer, als loyale Untertanen, und sie waren stolz darauf.
Aber die Ereignisse verschworen sich gegen sie, wie das manchmal so ist, und drängten die loyalen Untertanen in einen Krieg – einen Krieg, den sie nicht wollten. Selbst als der Geist der Unabhängigkeit wuchs, selbst nach dem 4. Juli 1776, stand die Bevölkerung keineswegs einstimmig hinter dieser Erklärung.
In allen Ecken des Landes, in jeder Stadt, gab es Tausende, Zehntausende, die gegen den voreiligen Akt der Auflehnung, dieses selbstmörderische Drängen zum Krieg, vehement protestierten. Vergessen Sie nicht: Sie alle hielten sich für Patrioten … Und als die Revolution in vollem Gange war, als der Krieg über sie herein brach, verstärkten sich Pro und Kontra.
Eine politische Kontroverse hatte sich in einen kriegerischen Schlagabtausch verwandelt. Die politischen Standpunkte reduzierten sich auf zwei, die Bevölkerung war zweigeteilt: Man war entweder Patriot oder Loyalist. Für die Patrioten hieß das, jemand war entweder bereit, für die Rechte und Freiheiten der Amerikaner zu kämpfen, oder eben nicht. Für die Loyalisten war das alles Humbug; man war entweder für oder gegen die rechtmäßige Regierung. Selbstverständlich gab es viele intelligente, weiter denkende Menschen, die über den Tellerrand hinaus blickten und die krasse Schwarz-Weiß-Sicht nicht akzeptieren konnten. Sie könnten wir als Realisten bezeichnen.
Sie waren einfach nicht überzeugt von der Richtigkeit der einen oder anderen Ansicht, sie konnten nicht unwiderruflich der einen oder anderen Seite beipflichten. Sie sahen immer auch den Standpunkt der Gegenseite. Deshalb waren viele große und mächtige Männer fähig, die Seiten zu wechseln. Machte sie das zu Verrätern? Die Seiten wechseln – halten Sie das fest. Sie würden wirklich staunen, wer sich alles bemüßigt fühlte, die Seiten zu wechseln.« Er seufzte und legte sich die Rolex wieder ums Handgelenk. »Sie haben die Literaturliste. Informieren Sie sich.« Er lächelte und nahm seinen Schal.
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