Aquila
hatten, bemerkte Chandler, dass Polly eingeschlafen war. Sie hielt immer noch seinen Arm. Ihr Kopf mit dem dichten braunen Haar lehnte leicht an seiner Schulter. Wenn er sie ansah, war er restlos zufrieden. Die Schmerzen, die er nach der Attacke der beiden Gangster an den seltsamsten Stellen seines Körpers gespürt hatte, waren zurückgegangen. Seit er sich auf den Weg zu Percy Davis gemacht hatte, war sein Kopf klar. Natürlich war er noch genauso neugierig wie zuvor, aber er war nicht mehr besorgt, sondern eher froh und erwartungsvoll gestimmt. Er wusste nicht, woher seine Heiterkeit kam; er hoffte nur, dass sie ihm erhalten blieb.
In Gedanken hörte er wieder Percy Davis Underhills Brief vorlesen:
… weil er ein so seltsames und wertvolles Dokument besaß, dass ein Menschenleben nur ein zeitweiliges Hindernis für diejenigen darstellte, die es unter allen Umständen in ihren Besitz bringen wollten … Zwangsläufig werden die, die es haben wollen und bereit sind, dafür zu morden, noch gefährlicher, wenn sie entdecken, dass ihre Beute verschwunden ist. Aber ich bin in einer Zwangslage, und ich kann es nicht direkt an die Person schicken, die es früher oder später verifizieren muss: Professor Colin Chandler von der Harvard-Universität …
Nun, Polly und er waren in Sicherheit, weil keiner ihren Aufenthaltsort kannte.
Außer Brennan, natürlich. Er erinnerte sich nicht, ob er es 170
Hugh wortwörtlich gesagt hatte. Aber zweifellos wusste Brennan, dass sie nach Kennebunkport unterwegs waren.
Der Gedanke zog wie eine dunkle Wolke durch seinen Kopf und dämpfte sein Hochgefühl, aber er schob ihn beiseite. Hugh war nicht in Gefahr; wahrscheinlich kuschelte er mit einem guten Buch, einem hochprozentigen Drink und einer Schachtel Kleenex auf dem Sofa.
Es regnete heftiger. Windböen drückten gegen die Wagenseite.
Polly bewegte sich und erwachte, Chandler knurrte der Magen.
In einem einsamen, einladend erleuchteten Gasthaus bestellten sie sich Hamburger und spülten die Pommes und den Krautsalat mit heißem Kaffee hinunter. Danach sah er ihr beim Rauchen zu. Es machte ihm Freude, ihre Hände zu betrachten: Mit den ausgeprägten Sehnen, Adern und Knochen sahen sie aus wie feines, durchsichtiges Porzellan. Ihre Lippen schlossen sich weich um die Zigarette – ganz sacht, als könnte sie zerbrechen.
Sie strich sich das Haar zurück und lächelte ihn an, wobei sich ihre Mundwinkel kräuselten und Fältchen in ihren
Augenwinkeln spielten wie die Strahlen der aufgehenden Sonne.
Im peitschenden kalten Regen klebte Kennebunkport dunkel und dicht am Boden. Sie überquerten die Brücke, die auf den kleinen Dorfplatz führte. Auf seiner linken Seite wurde eine Sattlerei von der im Wind schwingenden Straßenlampe abwechselnd erleuchtet und in Schatten getaucht. Der Drugstore war geschlossen. Auch der angrenzende Lebensmittelladen mit Café war geschlossen. Sie überquerten den Platz und folgten Percy Davis’ Wegbeschreibung, bis sie die seewärts führende Straße mit den Docks und Antiquitätenläden und Restaurants auf der rechten Seite fanden. Im Scheinwerferlicht ließ der Sturm das grellblaue Schild des Arundel-Restaurants tanzen. Dahinter und zu beiden Seiten herrschte stockfinstere Nacht, aus der nur verschwommen die Lichter eines Schiffes, eines Hauses oder eines Zimmers herausstachen. Regen rann über die
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Windschutzscheibe.
Sie lauschten dem Donnern der Brandung, dem Zischen der Reifen auf der nassen Straße, dem Klagen eines Nebelhorns irgendwo vor der Küste. Die Scheinwerfer rissen mit Ginster bewachsene Sanddünen aus dem Dunkel, die der Winter und die Frühjahrsstürme braun und hart gemacht hatten. Als die Straße geradewegs in den Atlantik zu führen drohte, ging es nach einer Linkskurve rund um eine Landzunge. Das Gelände rechts war zum Strand und zum Meer hin mit Felsbrocken übersät; auf der Landseite erkannten sie verschwommen große Sommerhäuser.
Am Rand der Straße beleuchtete eine geschützte blanke Glühbirne von unten ein verwittertes Schild mit einem Pfeil zur Einfahrt von The Seafoam Inn. Kies knirschte unter den Reifen, als Chandler von der verlassenen Straße abbog.
Sie sah ihn an: »Da wären wir.« Nach vorn gebeugt versuchte sie, das Gasthaus oben auf dem Hügel besser zu sehen. Durch den Regen waren zwei gelblich erleuchtete Fenster zu erkennen.
Eine weiße Veranda führte über die gesamte Länge und um die Ecke des grünen Hauses mit dem Schindeldach. Hinter den
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