Arabiens Stunde der Wahrheit
Bemerkenswert war nicht nur der tollkühne Selbstbehauptungswille des im katholischen Glauben geeinten Ibo-Volkes gegen eine erdrückende Ãbermacht und eine weltweite Verschwörung. In den Sümpfen des Nigerdeltas, vor allem im Umfeld von Port Harcourt, waren unermeÃliche Vorkommen an Petroleum entdeckt worden. Dieser Reichtum wurde den Ibos zum Verhängnis. Auch in dieser Hinsicht läÃt sich eine Parallele zu den blutigen Vorgängen im heutigen Sudan konstruieren.
Was die ethnischen Divergenzen betrifft, die die Föderation ÂNigeria zu spalten drohten und heute wieder brisante Aktualität gewinnen, so konnte ich damals schon auf den vorzüglichen Lehrplan des Pariser Instituts für politische Wissenschaften zurückgreifen. Dort war uns beigebracht worden, daà die Masse der Haussa-Stämme im Norden Nigerias, die im neunzehnten Jahrhundert durch den Jihad des Nomadenvolkes der Peul unterworfen und zur koranischen Lehre bekehrt worden waren, sich alsbald in Sultanaten und Emiraten strukturierten. Andererseits hatten sich vor der Ankunft der britischen Kolonisatoren vor allem in der Westregion die heidnischen Stämme der Yoruba zu beachtlichen Fürstentümern zusammengeschlossen. Unter Beibehaltung ihrer bluttriefenden Zeremonien hatten sie die groÃartige Bronzekultur von Benin entwickelt und mit ihren faszinierenden, oft furchterregenden Masken manche europäische Bildhauer inspiriert.
In den undurchdringlichen Regenwäldern der östlichen Küstengebiete am Guinea-Golf schlieÃlich verharrte bis zur Besitznahme durch das britische Empire die Ethnie der Ibo in primitiver Sippen-Anarchie, entfaltete jedoch nach ihrer Bekehrung zum Christentum eine verblüffende Dynamik. Schon bald galten die Ibo als eines der anpassungsfähigsten und tüchtigsten Elemente Schwarzafrikas. Der Versuch jedoch, ihre Unabhängigkeit von Lagos in einem kriegerischen Kraftakt durchzusetzen, ist gescheitert. General Ojukwu setztesich nach Abidjan an der Elfenbeinküste ab, wo Präsident Houphuet-Boigny, wohl der bedeutendste Staatsmann im frankophonen Afrika, die Ibo als »einzige authentische Nation des KonÂtinents« pries. Durch Massaker und Hunger hatten die Ibo bis zu ihrer Kapitulation Anfang 1970 mehr als eine halbe Million Menschen eingebüÃt. Wenige Jahre später standen sie schon wieder im Begriff, durch ihre rastlose Energie und hohe Intelligenz eine beachtliche Rolle im wirtschaftlichen und kulturellen Gefüge der neu gegliederten Föderation Nigeria zurückzugewinnen.
Aber die Wunden sind nicht geheilt. Auch das im Südwesten Âlebende Volk der Yoruba mit seiner Vielzahl christlicher Sekten verwehrt sich gegen die Einführung der Scharia, der koranischen Gesetzgebung, die in den meisten der neu gegliederten Bundesstaaten des Nordens stattgefunden hat. Während sich die eingeborene ÂOligarchie längs der Guinea-Küste an den gewaltigen Erdölvorkommen des Nigerdeltas bereichert, steht die Verteilung des finanziellen Aufkommens zur Debatte. Gier nach Petroleum und konfessionelle Gegensätze, die beiden Sprengsätze, die heute im ehemals anglo-ägyptischen Sudan explodieren, üben auch in Nigeria ihre zersetzende Wirkung aus.
Wer den Ernst der Lage erkennen will, sollte sich nach Kano, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates im Norden, begeben. Die Bevölkerung ist auf drei Millionen angeschwollen, darunter viele Zuzügler aus den Haussa-Dörfern, denen die progressive Austrocknung des Sahel-Bodens die landwirtschaftliche Lebensgrundlage entzieht. Neben der Hafenstadt Lagos ist Kano die gröÃte Metropole Nigerias. Der Fäulnisgeruch des Mülls, die stinkenden Abwässer, die in der erdrückenden Hitze zur Brutstelle aller möglichen Krankheiten werden, das chaotische Durcheinander von Slums und Betonbauten, von Blechhütten, Ställen und schmutzspeiender Industrie beherbergen eine Bevölkerung, deren Mehrzahl mit einem bis zwei Euro pro Tag überleben muÃ. Etwas abgesetzt von diesen erbärmlichen »Bidonvilles« hat eine korrumpierte Elite ihre palastähnlichen Villen errichtet, die von angeheuerten ÂSicherheitskräften geschützt werden. Der unerträgliche Lärm desStraÃenverkehrs wird in regelmäÃigen Abständen übertönt von den Lautsprechern der zahllosen Moscheen und den Gebetsrufen der Muezzin.
Versetzen wir uns um ein halbes Jahrhundert
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