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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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zurück, zu den Eindrücken, die ich während meines ersten Aufenthalts in Nigeria sammeln konnte. Die Altstadt von Kano, von den Villen der Engländer durch einige Meilen getrennt, wurde in den Reiseführern als »Marrakesch des Südens« beschrieben. Das war eine grobe Übertreibung. In den offenen Marktbuden wurden mit Blech beschlagene, grell bemalte Brautbetten und ähnlich verzierte Sättel angeboten. Bei den Geldwechslern lagen die Maria-Theresien-Taler in hohen Rollen. Daneben wurden noch die alten Muschelmünzen, die Cowries, gezeigt, von denen 350000 für eine Frau gezahlt wurden. Dicke Zinnreifen galten einst ebenfalls als geläufige Währung, um auf dem benachbarten Sklavenmarkt Arbeitskräfte und Konkubinen zu kaufen.
    Hinter einem Haufen von toten Krähen und Igeln, von Rattenfellen, Affengliedern und seltsamen Wurzeln saßen bunt kostümierte Wunderdoktoren. Antimon zum Schwärzen der Augenlider, Henna zum Röten der Hände und Füße, Seife aus Pottasche, Colanüsse als Stimulans, Salzkugeln aus den Salinen von Bilma wurden hier feilgeboten. Die Stoffe, die noch nicht aus China stammten, kamen meist aus Manchester oder Osaka. Die örtliche Kunst beschränkte sich auf die Anfertigung rauchgeschwärzter Kalebassen oder unansehnlicher Silberarbeiten.
    Durch die eng gewundenen Gassen zwischen Lehmhäusern, deren Zinnen wie Zebu-Hörner geschwungen waren, zerrten halbnackte Schwarze ihre Lastkarren und spornten sich selbst mit rhythmischen Schnalzlauten an. Die Aasgeier, deren Tötung mit 10 Pfund Strafe geahndet wurde, hatten die Zutraulichkeit von Haustieren. Die Fliegen verdichteten sich auf dem Fleischmarkt zu Klumpen. Der Gesundheitsbericht erwähnte 200000 Blinde in Nord-Nigeria und eine Fülle endemischer Krankheiten. Die Zahl der Aussätzigen wurde nie statistisch erfaßt. Unweit des Sultans­palastes, der hinter mächtigen Laterit-Mauern verborgen war, spiegeltensich hoch über den flachen Gassen von Kano die weißen Minarette der neuen, großen Moschee in der Glasur einer blau-grünen Kuppel. Das Gebetshaus kündete von der Neubelebung des Islam in diesem afrikanischen Raum.
    Jenseits der Lagerhallen mit den steilen Erdnuß-Pyramiden, gleich neben den Bazar-Schuppen der Libanesen, erstreckten sich die Wellblechdächer von Sabongari. In diesem Stadtviertel hatten sich die christlichen Zuwanderer aus dem Süden niedergelassen, meist Ibo und Yoruba. Sie zeichneten sich gegenüber den muslimischen Haussa des Nordens, die sich als wandernde Händler bewährten, durch größere Anpassungsfähigkeit an die westlichen Gesellschaftsformen aus und hatten fast sämtliche Angestellten- und Schreiberstellen inne.
    Mit den »Leuten aus dem Süden«, wie man sie in der Nordregion nennt, ist der große Gegensatz der nigerianischen Politik bis tief in das Herz des Emirats Kano getragen worden. Die Unabhängigkeitsbewegung, die vor allem in der Küstengegend von Lagos und im Umkreis von Enugu ihren Ursprung nahm, führte damals zu einem Zweifrontenkrieg: gegen die Überbleibsel der britischen ­Kolonialverwaltung gewiß, aber beinahe mehr noch gegen die konservative Feudal-Opposition der Muslim-Sultanate des Nordens.
    Die Ibo aus dem Südosten entfalteten eine überschwengliche ­Vitalität. Während abends die Moslem-Stadt schweigsam und ein wenig bedrückt in ihren Lehmwänden schlummerte, erwachte Sabongari zu lärmendem Leben. Aus allen Häusern drang Radiomusik. Die Frauen trafen sich zu kreischenden Runden, während die Männer, in eine Phantasietracht – halb Pyjama, halb Pierrot-Kostüm – gekleidet, zu Fuß oder zu Fahrrad einem Kabarett unter freiem Himmel zustrebten, das den anspruchsvollen Namen »Rendez-vous des Aristocrates« trug.
    Kein Wunder, daß die Korangläubigen sich gegen soviel Sittenlosigkeit, soviel Geschäftigkeit, gegen diesen unverhohlenen Unterwanderungs- und Überflügelungsversuch der Christen zur Wehr setzten. Die Feudalherren und die Höflinge der Sultane hatten erkannt, daß es nicht länger ausreichte, mit bodenloser Verachtung aufdiese eben dem Götzenkult entronnenen »Kuffar« herabzu­blicken. Die Abwehr des Nordens gegen die Agitation aus dem Süden hatte zu einer islamisch ausgerichteten Kampagne geführt, die in mancher Hinsicht an die Loslösung Pakistans von Indien im Jahre

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