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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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sich die Lehre des Propheten in unseren Tagen ausgesetzt sieht, daß zur Zeit meines Islam-Studiums an der Jamiat el-Lubnaniya von Beirut Scheikh Abduh als Hoffnungsträger koranischer Erneuerung galt, der mit seiner Berufung auf die theologische Reinheit der frühen ­Vor­-fahren die wahre Lehre von allen Formen pseudo-mystischer Verwirrungen befreien und zur ursprünglichen Quelle der Offenbarung, zur »Salafiya«, zurückkehren wollte. Gleichzeitig betonte er jedoch in seinen Predigten, daß es keinen Widerspruch zwischen dem Islam und der westlichen Wissenschaft geben dürfe. Daß dieser bedeutende und durchaus moderne Vordenker hundert Jahre nach seinem Tod als Künder extremer In­toleranz und jihadistischen Eifers dargestellt wird, daß das Wort »Salafist« heute als Synonym für Gewalt und Blutvergießen benutzt wird, gehört zu den Wi­dersprüchen einer Religion, ­deren bislang höchste theologische Autorität, der Scheikh von El Azhar, sein Ansehen eingebüßt hat, seit er nicht mehr von den »Ulama« seiner Hochschule kooptiert, sondern vom ägyptischen Staatschef ernannt wird.

    Diegroße Unbekannte unserer Tage bleibt weiterhin die Organisation der Muslimbrüder – »Jam’iyat el Ikhwan el muslimin« –, an deren Massenaufgebot gemessen die Verschwörer von El Qaida sich als irrelevant erweisen. In Ismailia, dem Verwaltungszentrum der Suezkanal-Behörde, der Hochburg imperialistischer Präsenz in Ägypten, ist die Muslimbruderschaft im Jahr 1928 gegründet worden. An ihrer Spitze stand ein religiöser Zelot, der Lehrer Hassan el-Banna. Er verfluchte in seinen Predigten die fremde Kolonialpräsenz, und seine Jünger reihten sich von Anfang an in den Widerstand gegen die britische Besatzung ein. Seine politische Zielrichtung war in keiner Weise auf die Ausrufung einer unabhängigen säkularen Republik in Kairo ausgerichtet, wie sie Kemal Pascha, Atatürk genannt, zur gleichen Zeit in dem von ihm mit eiserner Faust regierten türkischen Reststaat erzwang. Hassan el-Banna suchte das Heil des Volkes in der Rückbesinnung auf die traditionellen koranischen Werte. Seine Parole lautete: »Der Islam ist die Lösung – el Islam hua el hall.« In der kurzen Zeitspanne zwischen 1932 und 1943 – so die offizielle Statistik – schwoll die Zahl der aktiven »Ikhwan« von tausend auf eine halbe Million an.
    Wie stark diese Bewegung bei der heutigen Bevölkerung des Niltals vertreten ist, läßt sich nicht abschätzen, aber man hüte sich vor den jüngsten Behauptungen gewisser Experten, die die extreme Zurückhaltung dieser Kampfgruppe beim Aufruhr auf dem Tahrir-Platz als Symptom allmählichen Erlöschens der religiösen Aufwallung auslegen. Schon sucht der Hohe Militärrat unter Marschall Tantawi nach einer Prozedur für die angekündigte Parlamentswahl, die einen islamisch orientierten Durchbruch in Grenzen halten könnte. Ob er sich dabei auf jene jungen Revolutionäre verlassen kann, die in ihren Sprechchören auf den überlieferten Kampfruf »Allahu akbar« verzichten und säkularen Vorstellungen anhängen, bleibt ungewiß.
    Hassan el-Banna wurde als revolutionärer Aufrührer 1949 umgebracht, aber seine Gefolgschaft ließ sich nicht ausrotten. Das ursprüngliche Programm der »Ikhwan«: »Allah ist unser Ziel, der Prophet Mohammed ist unser Führer, der Koran ist unsere Verfassung,der Heilige Krieg ist unser Mittel, der Tod im Dienste Allahs unser höchster Wunsch«, klingt nach einem Prozeß der Mäßigung, der sich bei den Ikhwan vollzogen hat, nicht mehr zeitgemäß. Die Stärke dieser Bewegung hatte von Anfang an darin bestanden, daß sie ihre Aktivität auf die Studenten, die Arbeiter und die Kleinbauern ausrichtete. In den Augen des Volkes galten die Ikhwan niemals als ein Verbund von Terroristen. Ihre karitative Aktivität verschafft ihnen bis auf den heutigen Tag eine breite Popularität. Bemerkenswert ist der gesellschaftliche Aufstieg und der Anklang, den die Muslimbrüder bei den bürgerlichen Schichten, beim Mittelstand erzielten. In den frei gewählten Gremien der Handels- und Indu­strieverbände, auch in den Anwalts- und Ärztekammern konnten sie eine Mehrheit hochgebildeter Anhänger gewinnen. Für das ägyptische Militär, das unter Gamal Abdel

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