Arabiens Stunde der Wahrheit
zukünftigen Parlament gewinnen, sich doch auf jeden Fall als stärkste politische Fraktion durchsetzen werden. Man sollte sich dem auch nicht in den Weg stellen und froh sein, wenn nicht Extremisten der radikalen Gruppe »Nur« eine Vielzahl von Salafisten um sich sammeln. Ob die jugendlichen Schwärmer für Demokratie und Freiheit eine tragfähige Mehrheit zustande bringen, ob die hektisch konstituierten neuen Parteien, die sich auf einen säkularen Staat berufen, ausreichenden Widerhall beim Volk finden, erscheint mehr als zweifelhaft. Die Ikhwan hingegen verfügen in Âjeder Fellachen-Siedlung über eine allgegenwärtige Werbeplattform. Von den unzähligen Kanzeln der Moscheen wird der »Khatib«, der Freitagsprediger, die Stimmabgabe zugunsten der koranischen Rechtgläubigkeit anmahnen, auch wenn er sich radikaler Aufrufe zur Gewalt enthielte.
Die Jünger Hassan el-Bannas sind zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr die fanatisierten Hitzköpfe wie zur Zeitder Gründung der Brüderschaft, als es galt, Front gegen das britische Protektorat zu machen und den verderblichen Versuchungen des »American way of life« die eigene Vorstellung der Âorganischen Einheit von »Religion und Staat â din wa dawla« entgegenzustellen. Die ideologische Wandlung, so diffus sie auch noch sein mochte, hatte ich bereits zu Beginn der achtziger Jahre in dem kleinen »Mamlakat« Jordanien feststellen können. Der Haschemiten-Herrscher von Amman, König Hussein, der sich dem westlichen Lebensstil weitgehend angepaÃt hatte, blickte mit starkem Vorbehalt auf die islamischen Fundamentalisten.
Dieser ungewöhnlich kleingewachsene Mann verfügte über stählerne Energie und groÃen Mut. Ihm kam auch zugute, daà seine Sippe sich als authentische Nachkommen des Propheten bezeichnen konnte. In jenen Jahren lehnten sich die Muslimbrüder Syriens mit Bombenanschlägen und Ãberfällen gegen das säkulare Baath-Regime des Präsidenten Hafez el-Assad auf. König Hussein stand dem alawitischen Diktator von Damaskus als Todfeind gegenüber. Als Instrument gegen den Machtapparat der Syrer waren ihm die Muslimbrüder halbwegs willkommen unter der Voraussetzung, daà sie sich in Jordanien jeder Agitation und Gewalttat enthielten. Die Ikhwan, die ihrerseits für Hussein nicht viel übrighatten, hielten sich strikt an dieses Gebot.
Der »Rat der islamischen Organisationen und Gesellschaften« diente den Muslimbrüdern als relativ harmlose Fassade in Amman. Ich wurde dort von einem bärtigen Athleten an der Tür erwartet und zum Generalsekretär dieses »Council«, Abdellatif Subeihi, geführt. Das Gespräch verlief fast herzlich. Subeihi trug ein weiÃes Kopftuch mit Agal. Er war etwa sechzig Jahre alt und wirkte kein biÃchen wie ein Terroristenführer. Hingegen besaà er eine profunde Kenntnis der christlichen Religion. Subeihi präsentierte sich als versöhnlicher Fundamentalist und war auf der Suche nach einer zeitgemäÃen »Ijtihad« der koranischen Lehre. Er steigerte sich zu der Aussage: »Wenn ich mich in der Welt umsehe, erscheint mir GroÃbritannien als ein Land, das den muslimischen Idealvorstellungen besser entspricht als manches arabische Land. In England herrschteine gewisse soziale Gerechtigkeit, die freie Meinung wird geduldet. Wo gibt es das in unserem Raum?«
Unvermeidlich ging das Gespräch auf das Thema Palästina über. Die Juden seien unentbehrlich gewesen für die muslimische Heilsgeschichte, meinte Subeihi. Die hebräischen Propheten seien frühe Künder der monotheistischen Botschaft im Gefolge Abrahams gewesen. Aber jetzt drohe ihnen göttlicher Zorn. Er zitierte einen Hadith, eine Ãberlieferung aus dem Leben des Propheten. Der zufolge hatte Mohammed angekündigt, daà der Staat der Juden â ehe er zerstört werde â bis zum Jordan reichen würde. Auch die ChriÂsten hätten Anteil an der Offenbarung, schweifte Subeihi ab. Isa, der Sohn Miriams, werde eines Tages wiederkehren, so stehe es Âgeschrieben, nicht als neuer Prophet, denn Mohammed sei das Siegel der Verkündung, sondern als »Muslich«, als »Reformer«.
Zwei Jahre später war ich in Irbid, im Länderdreieck Jordanien-Israel-Syrien, mit einem alten Bekannten verabredet. Fauzi war Agronom, überwachte die Bewässerungsprojekte im
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