Arams Sündenbabel
schien, dass man es gar nicht mehr für existent hielt.
Über dem mit Weiden, Wiesen und Gebüsch bedeckten Land lag der Dunst wie eine nie abreißende Schicht aus Watte, die für mich weder Anfang noch Ende hatte und sich in weiter Ferne verlor. Wir gingen über einen schmalen Weg am Ufer eines Baches entlang, an dessen Ufern sich ein dichter Wall aus »Watte« gebildet hatte.
Nach wenigen Schritten fragte ich: »Sie haben vom Sterben gesprochen, Mrs. Mädel. Es kommt mir vor, als hätten Sie eine gewisse Erfahrung mit diesem Thema.«
»Kann sein.«
»Dann ist es möglich, dass Sie dem Tod schon des öfteren begegnet sind?«
Sie räusperte sich. Ich hörte auch, wie sie tief ausatmete. »Wenn Sie es so meinen, wie Sie es gesagt haben, Mr. Sinclair, dann haben Sie Recht. Der Tod ist für mich nichts Neues.«
»Haben Sie viele Menschen durch ihn verloren?«
»Nein, nicht mehr als andere auch.« Wieder ein tiefer Atemzug. »Man sagt immer, dass der Tod zum Leben gehört. Dem stimme ich auch zu. Aber ich behaupte ebenfalls, dass es verschiedene Varianten gibt, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.«
»Davon hatte ich ja vorhin gesprochen.«
»Nein, das meine ich nicht.«
»Sondern?«
Sie senkte den Blick und schaute auf ihre Schuhe. Sie waren braun und mit flachen Absätzen versehen. »Sie sind ein besonderer Mann, das weiß ich, auch wenn Sie es jetzt abstreiten wollen. Wer einer Arbeit nachgeht wie Sie, der ist nicht normal, und das sehe ich durchaus positiv. Wir sind ja nicht grundlos hier zusammengekommen, und ich freue mich auch jetzt noch, dass Sie mir den Gefallen getan haben, sich mit mir zu treffen.
»Man hat mich darum gebeten.«
»Wunderbar.«
In der Tat hatte mich eine Bekannte, fast schon eine Freundin, um das Treffen gebeten. Die Frau hieß Janine Helder und war einmal eine Jugendliebe meines Vaters gewesen. Für mich war sie eine besondere Frau, die auch den Blick besaß, um hinter die Dinge zu schauen. Dabei war sie mit der Horror-Oma Lady Sarah Goldwyn nicht zu vergleichen, aber irgendwie trafen sie sich schon auf einer gewissen Ebene.
Durch Janines Initiative war ich mit Martina Mädel zusammengetroffen, denn beide kannten mich. Ich wusste nicht viel über Martina, aber ich hatte gespürt, dass sie eine besondere Frau war. Von ihr strahlte etwas aus, und ich dachte darüber nach, was es wohl sein konnte. Es war nichts Negatives, aber es grenzte sich schon von der Aura der normalen Menschen ab.
»Wir sprachen über den Tod, Mrs. Mädel.«
»Pardon, ich war einfach zu sehr in meine Gedanken vertieft.«
»Das macht nichts. Es ist auch ein Thema, über das man intensiv nachdenken kann.«
»Ja, der Tod...«
»Eben.«
Martina hob den Kopf und schaute in den Dunst, der sich kaum bewegte, weil es wieder windstill geworden war. Er umspannte einfach alles, jeden Strauch, jeden Grashalm und auch das weiter entfernt stehende kleine Waldstück, das ich nur als schwachen Schatten erkannte. »Was denken Sie über einen Menschen, der tot ist, Mr. Sinclair?«
»Oh, das ist ein schwierige Frage. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine Antwort geben kann, die Ihnen gefällt.«
»Das spielt doch keine Rolle. Mir ist Ihre Meinung wichtig, Mr. Sinclair.«
Was sollte ich da antworten?
Worte wie diese wunderten mich schon. Wollte mir Martina Mädel möglicherweise eine Fangfrage stellen, um eine bestimmte Meinung zu hören?
»Ein Mensch, der gestorben ist, der ist tot, Mrs. Mädel.«
»So sagt man wohl allgemein.«
»Richtig.«
»Aber glauben Sie auch daran?«
Hatte ich ein leichtes Lauern in ihrer Frage gehört? Es konnte durchaus sein, denn es hätte zu diesem ungewöhnlichen Thema schon gepasst. »Im Prinzip glaube ich daran, Mrs. Mädel. Es ist der Weg des Menschen. Geburt und Tod. Dazwischen liegt dann die Zeit, die man Leben nennt.«
»Ja, so sehe ich es auch. Aber können Sie sich auch Ausnahmen vorstellen, Mr. Sinclair?«
Aha, jetzt näherten wir uns allmählich dem eigentlichen Thema. Ich unterdrückte das Schmunzeln nicht, als ich fragte: »Hätten Sie auch einem anderen Menschen die gleiche Frage gestellt, Mrs. Mädel?«
»Nein, nicht jedem. Nur den sehr wenigen Ausnahmen. Und zu denen gehören Sie. Das weiß ich von Janine Helder.«
»Gut. Akzeptiert. Dann möchte ich von Ihnen wissen, wo das Problem liegt.«
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mr. Sinclair. Ehrlich und offen. Ich denke schon länger darüber nach, ob alles, was gestorben ist, auch wirklich tot ist.«
Ich schwieg.
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