Arams Sündenbabel
Eine ähnliche Antwort hatte ich mir schon vorgestellt.
»Sie sagen nichts?«
»Nein, denn ich frage mich, ob Sie Ihre Meinung über dieses Thema schon kundgetan haben.«
Martina Mädel lachte jetzt. »Warum reden Sie so gedrechselt? Sie sind interessiert und wissen sicherlich auch, dass manches, was wir als gestorben ansehen, gar nicht tot ist. Es lebt und existiert noch, wenn auch in einer anderen Form. Der Ansicht bin ich zumindest. Widersprechen Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind.«
Ich lächelte bei meiner Antwort. »Da Sie mich ein wenig kennen, werden Sie keinen großen Widerspruch erwarten.«
»Stimmt.«
»Und weiter?«
Martina setzte den Weg fort und schaute wieder auf ihre Schuhe.
»Nicht alles, was gestorben ist, das ist auch tot«, wiederholte sie wie eine Lehrerin vor ihren Schülern. »Es lebt noch. Nur sehen wir es nicht, denn es existiert auf einer anderen Ebene. Das ist für mich Faktum, und davon lasse ich mich auch nicht abbringen. Bevor Sie dazu etwas sagen, muss ich Ihnen erklären, dass ich mich hier auf Ausnahmen beziehe. Es ist für mich nicht die Regel.«
»Da stimmen wir überein.«
»Sehr gut.« Sie blieb wieder stehen und schaute in den blassgrauen Dunst. »Können Sie sich vorstellen, dass sich in diesen Schleiern die Geister der Toten drehen?«
»Nun ja, vorstellen kann man sich vieles. Ich will Ihnen auch gleich sagen, dass ich schon so etwas erlebt habe. Allerdings bei einem bestimmten Nebel, der dann alles zerstörte.«
»Das ist hier nicht der Fall. Die Geister der Toten, die keine Ruhe finden, suchen Verstecke. Sie ziehen sich zurück, aber manchmal erscheinen sie auch den Lebenden, weil sie noch alte Schulden zu begleichen haben. Das ist der Kreislauf. Sie haben eine Welt verlassen, die nicht eben gut war, was ihre Beziehung dazu anging. In ihrem Kreis haben sie etwas getan, dass von den Gesetzen der Menschen nicht gut geheißen werden konnte. Sie haben sich eben schuldig gemacht, und diese Schuld ist auch im Jenseits nicht vergeben.«
»Sie kennen sich aus.«
»Ja, das stimmt. Aber glauben Sie nur nicht, dass es mir Spaß macht, Mr. Sinclair. Es bedrückt mich. Es ist wie ein Fluch, und auch ich fühle mich schuldig.«
»Reden Sie weiter!«
»Die Sünde, Mr. Sinclair«, flüsterte sie. »Die Sünde ist überall auf der Welt. Manchmal ist die Welt sogar ein Sündenbabel, und wir Menschen stecken darin. Da stehen wir dann fassungslos vor den Dingen, anstatt sie zu akzeptieren. Leider ist unser Denken beschränkt. Ich habe nur wenige erlebt, die diese Akzeptanz mitbringen. Zu denen gehören Sie.«
»Aber Sie kennen mich nicht, Mrs. Mädel.«
»Janines Wort reicht mir.«
»Das ist dann etwas anderes.«
»Ich stamme nicht aus diesem Land, wie Sie meinem Namen schon entnehmen können. Ich bin in Ungarn geboren, habe auch österreichische Vorfahren. Doch das ist unwichtig. Ich kam hierher, ich wollte meine Ruhe haben, aber ich griff in ein Wespennest. Ich habe das Böse leider erlebt. Ich lernte die Welt kennen, wie sie nicht sein sollte. All das Böse. Der Hass, das Grauen, das Morden. Eine Welt, in der Leben nichts zählt und in der niemand Rücksicht auf den anderen nimmt. Scheußlich ist so etwas, doch ich habe sie mir nicht ausgesucht.«
»Das nehme ich Ihnen ab, Mrs. Mädel. Und gerade in dieser Welt ist Ihnen der Blick hinter die Kulissen gelungen, wo Sie genau das gesehen haben, das Sie mir schilderten?«
»Ja. Leider muss ich jetzt sagen.«
Ich legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und jetzt sind Sie traurig, nehme ich an.«
»Sehr sogar«, gab sie mit leiser Stimme zu. »Es ist beileibe nicht gut, dass es so etwas gibt. Ich habe mir etwas aufbauen wollen, aber ich bin in ein Sündenbabel hineingeraten, das auch mich mit in die Tiefe gerissen hat.«
So ernst ihre Erklärungen auch gewesen waren, ich versuchte trotzdem, ein wenig Optimismus zu verbreiten. »Dass Sie von gewissen Ereignissen in die Tiefe gezerrt wurden, kann ich kaum glauben. Sie machen mir nicht den Eindruck.«
»Es ist leider so, Mr. Sinclair.«
»Gut, akzeptiert. »Darf ich dann fragen, was Sie getan haben?«
»Ich bewegte mich vom rechten Weg ab und musste dafür büßen, weil ich zu spät bereut habe.«
»Auch akzeptiert. Aber was hat das mit den Toten zu tun, die nicht tot sind?«
Martina Mädel schaute mich an. Sehr lange, sehr ernst. »Das werden Sie herausfinden müssen, Mr. Sinclair, wenn ich Sie davon überzeugt haben sollte. Wir haben beide zugegeben, dass nicht alles
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