Arbeit und Struktur - Der Blog
umbringen.”
Achtundzwanzig :
20.5. 2012 14:42
Plötzensee. Jörg schenkt mir Tomatenpflanzen für den Balkon, die jetzt vor sich hin trocknen.
26.5. 2012 23:12
Im Spätkauf kaufe ich Schokolade, Haribo und den Spiegel, hebe am Leopoldplatz Geld ab und fahre mit dem Rad zwei Stunden die Straßen um meine Wohnung herum ab, ohne nach Hause zu finden. Kein Nordufer, kein Kanal. Die Amrumer Straße kommt mir bekannt vor, Häuser und Perspektive allerdings ganz falsch, also Richtung vermutlich falsch. 180-Grad-Wendung. Jetzt heißt die Amrumer Straße Afrikanische Straße, und der Leopoldplatz ist verschwunden. Kleine und immer kleinere Straßen, von denen die eine Hälfte nach belgischen Orten heißt, die andere nach afrikanischen Staaten. Turin und Kiautschou fallen raus. Samoastraße. War das nicht mal deutsche Kolonie? Für Hirnorganiker nur suboptimal, einem realen Gassenlabyrinth und straßenplanerischen Komplettdesaster eine falsche Weltkarte unterlegt zu finden. Genter Straße, Utrechter Straße, Limburger Straße. Brüssel, Antwerpen, Uganda, Sambesi. Sansibar, ein Anzug für einen Hosenknopf.
Beim Schreiben der Finsternisszenen in Sand war der Orientierungsverlust sehr hilfreich. Vor zwei Jahren noch hätte ich mir nicht vorstellen können, wie blöd ein Mensch sich im Dunkeln anstellen kann.
An fast jeder Bushaltestelle halte ich, um zu schauen, ob der fett gelb umrandete Standortkreis auf der Karte der Stelle, an der ich das Nordufer vermute, langsam entgegenwandert. Tut er nicht.
Stattdessen ruckt er auf einer unförmigen Kreisbahn um den Westhafen herum, der der mittlerweile vorläufig angepeilte Zielort ist, seiner auf der Karte leicht identifizierbaren Paddelform wegen, und weil ich vermute, das Nordufer liege zwischen ihm und mir. Dann stehe ich zum dritten Mal vor einem Haus, auf dem eine riesige Fassadenmalerei die Schönheit des Weddings besingt. Ich überlege, ob dieselbe Malerei auf drei verschiedenen Häusern an drei exakt gleich aussehenden Straßenkreuzungen angebracht sein könnte und mutmaße: nein.
Ick steh
uff
Wedding
Dit is
meen Ding
Warm ist die Nacht, ich versuche, es zu genießen. Mein Leben. Die Leute, die Wärme, die auf türkisch und arabisch geführten Gespräche. Immer wieder komme ich an den mir bekannten Mauern und Gebäuden des Virchow-Klinikums vorbei und weiß, daß ich den Komplex nur einmal ganz umrunden müßte, um irgendwo aufs Nordufer zu stoßen. Aber genau das passiert nicht.
Mittlerweile komme ich überhaupt nicht mehr voran, weil ich an jeder Bus- und Straßenbahnhaltestelle ausgiebig die Lage analysieren muß. Dabei achte ich darauf, das Fahrrad immer genau in Fahrtrichtung abzustellen, weil ich, wenn ich beim Kartenstudium die Übersicht verliere und in Panik gerate, nicht mehr erinnern kann, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Und weil ich, wenn ich das nicht mehr kann, endgültig in Panik gerate. Ich gerate also in Panik. In einer von mir provisorisch Dönerladenstraße getauften Straße stelle ich fest, daß ich mein Handy zu Hause vergessen habe, so daß ich mich auch nicht wie sonst oft zuletzt von C. telefonisch durch die Stadt fernsteuern lassen kann.
Und ich könnte natürlich irgendwelche Leute fragen, die aussehen, als wüßten sie Bescheid und seien des Deutschen mächtig. Aber das will ich nicht. Je schwärzer die Nacht, umso sehnlicher der Wunsch, die Situation selbst zu meistern, auch als Vergewisserung, die Eigenschaften, die ich einmal besaß, noch nicht komplett verloren zu haben, darunter die Fähigkeit, Ich zu sein und zu sagen. Und dieses Ich verdammt noch mal im Raum zu orientieren. Herrndorf, der Logiker, der Mathematiker, der geborene Navigator, das war ich doch einmal. Und deshalb bin ich das heute noch. Nur daß mich der große Navigator gerade durch die Lütticher Straße navigiert, was auch falsch sein könnte. Das ist falsch. Also tritt zu den Vorgenannten noch der brillante Stratege hinzu.
Der brillante Stratege unterscheidet sich vom mittelmäßigen Strategen dadurch, daß er einmal gefaßte Pläne im Handumdrehen durch ganz andere Pläne leichten Herzens ersetzen kann. Mit kühnem Federstrich entwirft er eine ganz neuartige Taktik, und diese Taktik sieht vor, das kolumbusgleich-filigrane Nachhausenavigierenwollen aufzugeben zugunsten der Brute-Force-Variante, auf der immer wieder unverständlich quer zum Weg liegenden Seestraße in die Nacht zu brettern, an der früher oder später der Plötzensee liegt,
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