Arbeit und Struktur - Der Blog
Monaten meldete sie: Tamoxifen scheint zu wirken, neuer Herd löst sich auf, alte, bestrahlte Stelle unverändert. Vor fünf Tagen starb sie.
Eine Freundin von ihr mailt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut worden, selbst zum Schreiben zu schwach. Der Versuch, sie mit den Mitteln der Palliativmedizin in einen stabilen Zustand zu bringen, hatte wenig Erfolg. Auch im Hospiz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offensichtliche Kraft, die zum Schreien vorhanden war, habe, so die Freundin, im krassen Gegensatz zum geschwächten Gesamtzustand gestanden. Die Ärzte konnten sie nur beruhigen, indem sie sie komplett sedierten. Sie hat die durchschnittliche Lebenserwartung von siebzehn Monaten knapp verfehlt, in der ungünstigen MGMT–Gruppe gehörte sie zu den glücklicheren 15 Prozent.
Unten in der Hotellobby finde ich Per und Lars, an denen ich mich festhalten kann zum Glück.
26.4. 2012 18:46
Hinter den anderen her durch die Medina auf der Suche nach dem nördlichen Strand und der Fabrik, in der Per seine Schatullen herstellen läßt. Das Gewimmel der vor sich hin krepelnden Menschen, die aus Müll und Abwasser gemachten Straßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Lebendigen lassen mich umkehren. Sofort verlaufe ich mich. Zweimal renne ich die auf ganzer Länge verstopfte Hauptstraße hoch und runter, bis ich endlich die mit einem Stadttor markierte Abzweigung zum Hotel gefunden habe.
Dann in Badehose Spaziergang zum leer und befreiend vorgestellten, aber vermüllten und von Quads zerfetzten südlichen Strand, der vor zwei Jahren noch großartig schön gewesen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigstens erschöpft zu sein am Abend. Ich versuche mir vorzustellen, was es bedeutet, eine Nacht durchzuschreien vor Angst. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es Empathie ist oder Selbstmitleid, ich denke nicht nach.
Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß.
27.4. 2012 09:09
Von frühester Kindheit an hatte ich die Vorstellung, nicht von dieser Welt zu sein. Ich sah aus und redete wie die Erdlinge, kam aber in Wirklichkeit von der Sonne. Das erklärte das seltsame Anderssein der anderen. Aus mir selbst rätselhaften Gründen durfte ich mit niemandem über meine Herkunft sprechen. Meine Mission war unklar. Ich hielt es für eine gute Idee, erstmal alles zu beobachten. Ein einziges Mal offenbarte ich mein Geheimnis meinem besten Freund, und zwar, das weiß ich noch, als wir bei meiner Großmutter vor dem Goldfischteich standen. Ich erklärte ihm, daß ich oft spielte, ich käme von der Sonne. In Wahrheit hoffte ich, auch er würde sich als Außerirdischer zu erkennen geben. Die Vorstellung verschwand, als ich 8 oder 9 war, und ich weiß noch, daß mich ihr Verschwinden leer zurückließ.
Einzig mir nachvollziehbare religiöse Handlung immer gewesen: Der in allen frühen Kulturen praktizierte Kult um die frühmorgendliche Erwartung und Verehrung der Sonne. Aber alles, was danach kam und das Bild der Sonne ersetzte durch andere Bilder und die Bilder durch Abstracta und den Gott fröhlicher Gegenwart durch jenseitige Finsternis -
1975 im Ägyptischen Nationalmuseum in Kairo gesehen: Echnaton samt Gattin und den in den Kalkstein gekratzten bestirnten Himmel über ihnen. Für den Zehnjährigen wenig beeindruckend; die effeminierte, leicht fernöstlich wirkende Statue des ersten Monotheisten hingegen schon.
27.4. 2012 14:08
Für Marrakesch bin ich zu unruhig, Per und die anderen machen sich allein auf den Weg. Ich bleibe im Hotel, lese Agota Kristof, sofort sind alle Schmerzen weg.
30.4. 2012 15:00
Am Strand von Sidi Kaouki den eigentlichen Grund der Reise in Augenschein genommen, angegangen und gewissenhaft erledigt, Baden in tosender Brandung. Toll. Dann deprimierendes Wettrennen am Strand: Letzter. Dabei fühle ich mich wie mit zwanzig. Bemerkenswert, wie Lars den Strand niederstampft wie Ailton – wirklich genau wie Ailton. Er ist allerdings auch verliebt.
Während ich wenigstens in der Disziplin des Sandalenweitwurfs das Feld beherrsche, führt Per in dem sonst leeren Strandcafé geschäftliche Verhandlungen mit dem zwielichtigeren Teil des Personals eines Robert-Rodriguez-Films.
1.5. 2012 10:30
Fahrt zurück über die
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