Arcanum – Das Geheimnis
lies. Nun hatte er diesen Weg verlassen und er empfand nichts. Er hatte eine Grenze überschritten, hinter der die größte aller Gefahren lauerte. Hatte er wie Dr. Jekyll vielleicht schon mit der Muttermilch ein Elixier geschluckt, das die gute von der schlechten Seele trennte und sie in zwei unabhängigen Wesen materialisierte? Er hielt nur mit Mühe die Teile zusammen, die ihn ausmachten. Er wusste nicht, ob er zurück konnte, ob er zurück wollte auf das Gleis seines Alltags. Andrerseits konnte er die Frage nicht beantworten, wohin sein Zug abseits der vertrauten Schienen fahren würde, geschweige denn, ob er ihn steuern könnte.
Es war gegen sieben Uhr, als sie nach Hause aufbrachen. Draußen fing es an zu schneien, und in der Dunkelheit erforderte die Rückfahrt seine ganze Aufmerksamkeit. Als sie nach einer Stunde in die Garage rollten, hatte sich Calw in eine weiße Winterlandschaft verwandelt.
In der Nacht lag Carolin lange wach. Sie spürte, dass in ihrem Mann eine Veränderung vor sich ging, die ihr Angst machte. Er war zuvorkommend und einfühlsam, doch sie kannte ihn lange genug, um zwischen den Zeilen lesen zu können. In ihm fand ein Kampf statt. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, ihn danach zu fragen. Sie war in der Anfangszeit ihrer Beziehung regelmäßig gegen eine Betonwand gelaufen. Er würde sich ihr anvertrauen, wenn er es für richtig hielt, und das hieß erst dann, wenn er das eigentliche Problem gelöst hätte. Sie seufzte. Typisch Mann. Nein, typisch ihr Mann. Er musste alles mit sich selbst ausmachen, doch sie wusste auch, dass er nie gelernt hatte, zu vertrauen und Hilfe anzunehmen. Sie drehte sich um und schlief erschöpft ein.
Nach einem Arbeitstag, der ihm endlos schien, fuhr Christopher am Montagabend zu seiner Verabredung mit Herrn Gryphius ins Rosenkreuzerheim. Carolin sollte nicht mit dem Essen auf ihn warten, und da er oft länger in der Praxis bleiben musste, fragte sie nicht nach dem Grund. Er war zu früh und nutzte die Zeit, um sich ein wenig umzusehen. An den Wänden des Zimmers, in das man ihn geführt hatte, hingen Plakate mit Kreuzen und Rosen, die mit mystischen Texten das Gedankengut der Rosenkreuzer vermittelten. Er hatte versucht, sich im Internet schlauzumachen, doch die verwirrende Anzahl der unterschiedlichsten Rosenkreuzerbewegungen machte das auf die Schnelle unmöglich. Insofern war er gespannt, etwas über das Lectorium Rosicrucianum auf dem Wimberg aus erster Hand zu erfahren, und vielleicht einen Hinweis auf eine Verbindung dieser Leute zu ihrem rätselhaften Artefakt zu finden.
„Herr Müller?“
Die Tür hatte sich geöffnet und ein Mann, der offensichtlich Herr Gryphius war, steckte den Kopf herein. Ein Stirnrunzeln signalisierte Christopher, dass Herr Gryphius überlegte, ob er ihn nicht von irgendwo her kenne. Er hielt die Luft an. Würde seine Täuschung auffliegen? Das wäre ein denkbar schlechter Start für eine Unterhaltung, wenn er nicht sofort hochkant hinausflog.
Die Stirn glättete sich wieder, und Herr Gryphius setzte das verbindliche Lächeln eines Politikers auf, das so undurchdringlich war wie dichter Nebel.
„Kommen Sie doch bitte mit in unseren Tempel. Dort kann ich Ihnen am leichtesten die Besonderheiten unserer Gemeinschaft erklären.“
Christopher folgte Herrn Gryphius, der ein atemberaubendes Tempo vorlegte, woraus er schloss, dass der ältere Herr über eine außergewöhnliche körperliche Fitness verfügte. Herr Gryphius war schlank, hatte wasserblaue Augen und sein Auftreten entsprach dem eines Aristokraten alter Schule. Seine Schläfen waren eisgrau und der Haarschnitt militärisch korrekt.
Er blieb schließlich in einem kirchenähnlichen Raum stehen, drehte sich um und blickte Christopher mit unergründlicher Mine an. Hatte er ihn erkannt? Wenn ja, dann war Herr Gryphius ein ausgezeichneter Schauspieler.
„Sie haben sicher schon eine unserer Broschüren gelesen, die sie als Link auf unserer Homepage finden“.
Herr Gryphius schaute Christopher prüfend an.
Mist. Für jemanden, der vorgab Mitglied der Rosenkreuzer werden zu wollen, hätte er auch das Naheliegendste tun sollen.
„Nein, ich muss gestehen, ich habe sie nicht gelesen. Ich gehöre zu einer Generation, die das Internet nur wenig nutzt und Informationen lieber aus erster Hand von Fachleuten aus Fleisch und Blut bezieht“, log Christopher in der Hoffnung Herrn Gryphius mit dieser plumpen Schmeichelei für sich zu gewinnen. Herr Gryphius lächelte milde
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