Arcanum – Das Geheimnis
auf, wobei der die Zeremonie leitende Sprecher mit schräg nach oben ausgebreiteten Armen ein spiritistisches Beschwörungsritual vorträgt, die sogenannte Formel der Loslösung, und danach die Totenbeschwörung vollzieht, indem er beim ersten Mal alle Vor- und Nachnamen des Toten und ein zweites und drittes Mal nur den Rufamen und den Nachnamen des Verstorbenen laut ausspricht, wodurch der Geist des verstorbenen Schülers in den Tempel gezogen werden soll.
Das alles gab noch keinen Sinn. Es fehlte jede Verbindung zur Kalenderscheibe aus Mittelamerika und deren Entstehungszeit zur ersten Jahrtausendwende. Er setzte alle Hoffnung auf das Buch der Fraternitas Rosae , doch er würde sich bis morgen gedulden müssen. Das Telefon klingelte.
“Silvia hier. Unser Besuch bei den Rosenbrüdern steigt morgen Abend um 22.00 Uhr. Mein Freund braucht noch zwei Jungs, die Schmiere stehen und ihm eventuell zur Hand gehen. Ich habe an Euch gedacht.“
Silvia machte eine kurze Pause, und Christopher dachte über die Konsequenzen nach, falls sie dabei geschnappt würden, dann willigte er ein.
„Sehr gut. Herbert macht auch mit. Dann erlebt ihr beiden Langweiler auch mal ein richtiges Abenteuer“, ergänzte sie herausfordernd, und nachdem Treffpunkt, Kleidung und Ausrüstung geklärt waren, hängte sie ein.
Christopher vermutete aufgrund ihres aggressiven Tons, dass es mit Herbert nicht so gelaufen war, wie geplant.
Sie wollte ihn mit ihrem Exfreund eifersüchtig machen, und er stellte befremdet fest, dass es ihn nicht gänzlich kalt lies.
Christopher war noch ganz in Gedanken bei Silvias makellosem, nacktem Körper, der selbst in seiner Erinnerung eine spürbare Erregung auslöste, als das Telefon erneut klingelte. Es war Herbert, der ihm mitteilte, dass die Pathologen meinten, die Hand habe zu einem wohlhabenden Mann Mitte vierzig gehört und sei mit einer metallischen Klinge abgetrennt worden, deren Legierung der damals gebräuchlichen Schwertklinge eines Ritters oder Adeligen entsprach. Das hätten die Rechtsmediziner mit einiger Mühe anhand des metallischen Abriebs und der Knochenstruktur ermittelt, die keinen Hinweis gebe auf die typische Unter- und Mangelernährung der einfachen Bevölkerung.
Jedes Puzzlesteinchen brachte ein wenig Licht ins Dunkel. Christopher musste sich noch eine Geschichte für Carolin ausdenken, denn er hatte nicht vor, ihr zu erzählen, dass sie am Mittwochabend mit einem ehemaligen Schwerverbrecher in ein gut gesichertes Verbindungshaus in Tübingen einbrechen wollten. Es würde sich schon etwas ergeben.
Der nächste Tag verging schleppend, und er ertappte sich dabei, immer wieder in Gedanken von seiner Arbeit ab zu schweifen. Er konnte es kaum erwarten, bis der letzte Patient die Praxis verlassen hatte. Nachdem auch sein Personal gegangen war, holte er die goldene Scheibe aus dem Tresor und legte sie auf den hell beleuchteten Arbeitsplatz seines Zahntechnikers. Er hoffte, dass er ihr eine weitere Information entlocken könnte.
Er schrieb die beiden Zahlen noch einmal groß auf ein Stück Papier: tecpatl 484455 und der innere Ring: acatl Muschel 84478. Er schrieb es noch mal: Nord 484455 und Ost 084478.
Er starrte die Zahlen an. Sie sagten ihm etwas, doch was? Er grübelte und plötzlich beschleunigte sich sein Puls. Das konnte nicht sein. Er öffnete den Fahrradroutenplaner auf dem Computer. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach jeder Fahrradtour die gefahrene Strecke und die Wegmarkierungen des GPS-Gerätes in ein elektronisches Fahrtenbuch zu übertragen, um seinen Trainingszustand zu dokumentieren. Er blätterte durch die Aufzeichnungen, bis er bei seiner letzten Fahrt angekommen war.
Das Gerät hatte am Anfangs- und Endpunkt eine Wegmarke gesetzt wie üblich. Was ihn interessierte, war aber eine Eintragung auf ungefähr der Hälfte der Strecke.
Das Gerät hatte beim Stopp in der Aureliuskirche eine zusätzliche Eintragung gemacht, weil er vergessen hatte, es auszuschalten.
Er las die Koordinaten laut vor: 48 Grad, 44 Minuten und 5,57 Sekunden Nord, 8 Grad, 44 Minuten und 7,23 Sekunden Ost. Er starrte die Zahlen an. Dann wieder auf die goldene Scheibe. Es gab keinen Zweifel. Die beiden Zahlenreihen entsprachen den GPS-Koordinaten einer Position in der Aureliuskirche in Hirsau, wenn man berücksichtigte, dass die Ausdehnung des Gebäudes in Nord-Süd Richtung zwischen 5,3 und 5,9 Sekunden lag und in West-Ost Richtung zwischen 6,5 und 8,5 Sekunden.
Verrückt. Oder doch nicht?
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