Arcanum – Das Geheimnis
kochte sein eigenes Süppchen.
Wusste er etwas über die goldene Scheibe? War sie ein Kultgegenstand der Rosenkreuzer? Im Grunde existierte das Lectorium Rosicrucianum seit weniger als hundert Jahren doch die Rosenkreuzer sahen ihre Ursprünge selbst in den Lehren des Hermes Trismegistos, im Manichäismus und bei den Katharern. Das Gemeinsame vieler Geheimgesellschaften war, dass man kaum auf gesicherte Daten zurückgreifen konnte. Sie gaben sich neue Namen, wurden verfolgt und in den Untergrund gedrängt, gingen in anderen Gemeinschaften auf und verwischten ihre Spur im Lauf der Jahrhunderte bis zur Unkenntlichkeit. Herr Gryphius würde ihm keine Hilfe sein. Im Gegenteil. Christopher hatte durch seinen Besuch den Köder geschluckt, den sie ihm auf den Bildschirm seines Computers geworfen hatten. Er hätte sich ohrfeigen können. Aber immerhin glaubte er jetzt, den Gegner zu kennen. Welche Rolle spielte die Fraternitas Rosae bei alledem?
Es war halb neun, als er die Haustüre aufschloss. Carolin hatte ihm das Essen warmgehalten. Die Kinder waren auf ihren Zimmern oder im Bad, und hier und da hörte er ein Kichern und Glucksen. Es war ein lebendiges Haus, doch er hatte das Gefühl, dass ihm das alles entglitt. Er fühlte sich wie jemand, der mit einem Teil seines Körpers in einem vollkommen anderen Universum steckte, das an ihm zerrte und ihn schließlich ganz in sich hineinsaugen würde.
Er war selbst der Wanderer am Weltenrand geworden, jene Gestalt im so häufig reproduzierten Bild des Astronomen Camille Flammarion von 1888, das ihm in den Religionsbüchern seiner Schulzeit zum ersten Mal begegnet war.
Es war das Bild eines Mannes, dessen Kopf und Schultern in eine Welt jenseits des Fixsternhimmels ragten, doch dieses Bild war nicht Sinnbild für Fortschritt und Erkenntnis für ihn geworden, sondern zuerst ein Sinnbild für den gähnenden Abgrund, der unmittelbar hinter der vertrauten Welt des Alltäglichen lauerte.
Warum sah er in diesen Abgrund? Er hatte einen Seitensprung gemacht. Doch inzwischen erschien er ihm so weit entfernt und unwirklich wie ein erotischer Traum. Er und Herbert untersuchten nichts weiter als einen etwas ungewöhnlichen, archäologischen Gegenstand.
Auf eine geheimnisvolle Weise begann nun aber dieses okkulte Artefakt, sein Leben zu bestimmen.
Es steckte noch etwas anderes dahinter. Verrückt, aber es kam ihm so vor, als sei es kein Zufall gewesen, dass es zu exakt diesem Zeitpunkt in seine Hände fiel.
Schluss jetzt. Seine rechte Faust knallte energisch in die linke Handfläche. Carolin schaute ihn fragend an.
Er lächelte, „ist nicht so wichtig, ich habe nur nachgedacht.“
Er war nicht aufrichtig, und er hasste sich dafür, doch er konnte nichts dagegen tun.
Einem Hinweis von Herrn Gryphius wollte er unbedingt nachgehen. Die besondere Beziehung zu Andreä und den drei bekannten Rosenkreuzerschriften, die vermutlich aus seiner Feder stammten, konnten von Bedeutung sein.
Christopher zog sich nach einem schweigsamen Abendessen zurück in sein Arbeitszimmer. Er suchte im Internet nach der fama fraternitatis , einem Text Andreäs, der eine zentrale Rolle in der Glaubenswelt der Rosenkreuzer spielen sollte.
Er las konzentriert. Da wurde eine Graböffnung beschrieben, die ein Geheimnis, ein Arcanum , zutage förderte, das der Welt nicht offenbart werden dürfe. Der Leichnam im Grab sei Christian Rosencreutz gewesen, der ein Buch in Händen hielt, das mit einem großen Tau auf dem Einband gekennzeichnet war. Dieses Buch sei der größte Schatz neben der Bibel und ende mit der mystischen Botschaft:
Aus Gott werden wir geboren, in Jesu sterben wir und durch den Heiligen Geist werden wir wieder lebendig.
Natürlich war ein zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens die Auferstehung von den Toten, doch diese Formulierung war seltsam und meinte etwas anderes. Christopher googelte sich noch einmal zum Lectorium Rosicrucianum und suchte eine Stelle, die ihm schon zuvor aufgefallen war. Da stand es:
Nekromantische Totenbeschwörung.
Die Rosenkreuzer hielten für Verstorbene eine Beschwörungszeremonie ab, in der sie mit den Toten in Verbindung traten.
Er las: Der Höhepunkt dieses Dienstes ist die magische, dreimalige, laute Anrufung des verstorbenen Schülers mit allen seinen Vor- und Nachnamen durch den Zeremonienleiter. Dazu stellen sich der Zeremonialmagier und zwei sogenannte Priester, die mindestens Mitglied der fünften Ansicht sind, zu einem Dreieck vor dem Rosenkreuz
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