Arcanum – Das Geheimnis
ausgiebig und meinte, er sei müde, und man könne ja morgen das Buch übersetzen. Auch er lies sich schwerfällig in seinen alten VW-Käfer fallen, den er vor dem Haus geparkt hatte, winkte noch kurz und brauste ab in Richtung Tübingen. Christopher war mit Silvia alleine, die noch immer die SD-Karte zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie eine Trophäe.
„Du gibst sie am besten mir“. Christopher griff nach ihrer Hand, die sie geschickt wegzog.
„Umsonst ist der Tod“.
Da war wieder ihr unheimliches Lächeln. Sie war eine Spinne, die ihn in ihrem Netz gefangen hatte und anfing, ihn langsam auszusaugen. Er ignorierte die innere Stimme, die ihn warnte, ging mit ihr hinein und riss ihr nach dem obligatorischen Espresso, der offensichtlich nicht nur die guten Lebensgeister in ihm weckte, die Kleider vom Leib. Die Vereinigung war animalisch, und er erinnerte sich danach nur verschwommen, was zwischen ihnen geschehen war. Die Abhängigkeit wurde mit jedem Mal schlimmer. Er wälzte sich erschöpft von ihr herunter, lies sie auf dem dicken Teppich des Wohnzimmers liegen, schnappte sich die Karte und schob sie in den Schlitz des Lesegerätes an ihrem Notebook. Es waren vierzig Bilder zu je zwei Seiten, sodass das Buch insgesamt achtzig Seiten umfasste. Er hatte das große Latinum und viele Klassiker gelesen, sodass er den Text beinahe mühelos verstand:
Vita Adeodati Conscius Papae war die Überschrift des Textes. Adeodatus schien ein enger Vertrauter des Papstes gewesen zu sein, wobei Conscius auch ein Mitwisser oder Mitverschwörer sein konnte. Er übersetzte weiter:
Adeodatus war im Kloster Melk als puer oblatus aufgewachsen, was bedeutete, dass er bereits in zartem Kindesalter den Ordensmönchen zur Ausbildung übergeben worden war, allerdings mit der Besonderheit, dass er seine Eltern nicht kannte. Sie hatten ihn mit reichlich finanziellen Mitteln ausgestattet vor den Klosterpforten abgelegt, und es hieß, sie gaben ihn weg, weil er ihnen unheimlich wurde. Er war ein hochbegabter, intelligenter Junge, der die Schule des Triviums und Quadriviums im Eiltempo durchlief. Die emotionale Entwicklung blieb mit Sicherheit auf der Strecke, da er in der Männergesellschaft eines Klosters außer gleichgeschlechtlichen Annäherungsversuchen keine körperliche Zuwendung fand.
Er wurde ein kühler Gelehrter, der im Klosteralltag alle Arten von Entbehrungen kennenlernte und gestählt wurde für seine Aufgabe.
Diese Aufgabe hatte das Attribut permagnus und meinte damit etwas, dessen Wichtigkeit und Größe das Vermögen eines einzelnen Menschen überstieg. Christopher sah die Parallelen zu seiner eigenen Jugend und konnte sich gut in jenen Adeodatus hineindenken, der offensichtlich um das Jahr 1030 geboren worden war. Seinen Namen hatte er vermutlich im Kloster erhalten, da er auf seine Herkunft abzielte:
Als a-deo-datus , von Gott gegeben, bezeichnete man häufig Kinder, die vor den Klosterpforten ausgesetzt worden waren. Christopher las begierig weiter.
Die Begabung und Gelehrsamkeit des jungen Adeodatus sprach sich schnell bis nach Rom herum. Gerade hatte Bruno von Egisheim den Papstthron als Leo IX. bestiegen, und wurde damit Oberhaupt der Christenheit des Weströmischen Reiches.
Christopher blickte auf. Bruno war ein Onkel des Grafen Adalbert von Calw und besuchte 1049 Hirsau.
Ein Schnarchen aus dem Wohnzimmer signalisierte ihm, dass Silvia eingeschlafen war, umso besser. Er war auch müde, und das Übersetzen fiel ihm zusehends schwerer. Ungeduldig öffnete er die letzten Bilder vom Ende des Buches.
Der junge Adeodatus stieg schnell zu einem der engsten Vertrauten des Papstes auf. Er begleitete ihn auf seiner Reise in den Schwarzwald, wo sie in Hirsau die bereits verfallene Aureliuskirche aufsuchten. Leo bedrängte seinen Onkel, das Gotteshaus wieder aufzubauen, denn es bewahre ein Geheimnis. Der lateinische Begriff war Arcanum .
War es dasselbe Arcanum , von dem in der Graböffnung des Christian Rosencreutz berichtet wurde?
Christopher nahm sich die letzte Doppelseite vor. Leo und sein Verbündeter fanden das Arcanum mithilfe eines goldenen Rades, das sie aus Rom mitgebracht hatten.
Er fuhr abrupt auf. Die goldene Scheibe mit den GPS-Koordinaten? Wenn Leo kein GPS-Gerät bei sich hatte, konnten die Zahlen allerdings keine Bedeutung für ihn haben. Es gab noch den Kreuzessplitter und das Kruzifix. Vielleicht steckte darin eine weitere geheime Botschaft, die ihm entgangen war.
Er vertiefte sich gerade wieder
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