Arche Noah | Roman aus Ägypten
holen.
E ndlich trafen sich Nadeschda, Diana und Assja unter Asfirs Dach wieder. Ein neues Mädchen war auch dabei, siehiess Sonja und stammte aus Neftçala, einer Stadt an der aserbaidschanischen Küste. In der Wohnung gab es nicht genug Sitzgelegenheiten für alle, denn der Architekt hatte das Haus so konzipiert, dass man nur eine Person auf einmal empfangen konnte, die allerdings sehr schmal sein musste und nicht mehr als fünfzig Kilogramm wiegen durfte. Also nahmen sie auf dem Boden Platz und blickten alle in nordöstliche Richtung, denn in jeder anderen Position hätten sie mit der Nase direkt an der Wand geklebt. Als Asfir ihnen mitteilte, dass die Stimmung im Land umgeschlagen sei, draussen nun die Farbe Dunkelbraun vorherrsche und es folglich noch eine Weile dauern werde, bis sie ihre Reisepässe bekämen, löste sie allgemeines Gejammer aus. Aber es half nichts, die vier Frauen mussten die Zeit irgendwie totschlagen. Sie beschlossen, sich Geschichten zu erzählen, ganz nach dem Motto: Anderer Leid lindert dein eigenes.
Sonja sprach weder Englisch noch Arabisch, also erklärte sich Diana bereit, zwischen dem Arabischen und Russischen zu dolmetschen. Jede sollte, so kamen sie überein, zunächst von ihrer ersten sexuellen Erfahrung berichten.
Sanâa begann: »Meine Mutter war Schulrektorin, mein Vater ein Journalist und grosser Schriftsteller. Er starb jung bei einem höchst seltsamen Vorfall: Als er eines Tages gerade aus der Zeitungsredaktion kam, stürzte sich ein Gauner auf ihn, über den er einmal einen Artikel geschrieben hatte. Er zog die Pistole – und peng, peng! Mein Vater war tot. Ich ging damals noch nicht zur Schule. Meine Mutter zog mich allein gross. Sie hiess Nûr, also Licht, und in ihrem Licht erstrahlte die ganze Schule, die sie leitete und auf die sie auch mich schickte. Ich war sehr gut, besonders inPoesie. Ich schrieb auch selbst Gedichte, von denen meine Lehrer begeistert waren. Als ich in der neunten Klasse war, ging meine Mutter in Rente. Dann auf dem Gymnasium hatte ich einen fiesen Rektor, der meine Mutter hasste. Mathematik war nicht meine Stärke, und so brachte ich jeden Monat lausige Noten heim.
Jedenfalls rief der Mathematiklehrer – es war sein erstes Jahr an der Schule – mich eines Tages zu sich und fragte mich: ›Sag mal, Sanâa, hast du vor, dieses Schuljahr zu bestehen?‹
›Natürlich‹, antwortete ich.
›Dann musst du Privatstunden nehmen.‹
Ich fragte Mutter, doch sie lehnte ab. Sie hatte etwas gegen Einzelunterricht. Darauf sagte der Lehrer, er würde mir kostenlos Nachhilfe geben, meine Mutter müsse ja nichts davon erfahren. Ich war einverstanden und ging zu der Adresse, die er mir aufgeschrieben hatte.
›Komm rein. Was möchtest du trinken? Tee vielleicht?‹
›Nein, das geht doch nicht.‹
Dann sagte er: ›Schau mal, Sanâa, deine Leistungen sind sehr schlecht, aber ich kann dich ohne Nachhilfestunden bestehen lassen. Im nächsten Jahr wechselst du in den geisteswissenschaftlichen Zweig, und dann hat sich die Sache. Anders kommst du sowieso nicht durch.‹ Dann griff er mir an die Bluse und fing an, sie aufzuknöpfen.
Ich stiess seine Hand weg, aber er stürzte sich auf mich. ›Ich schreie!‹, warnte ich ihn.
›Mach doch‹, sagte er.
Ich weiss nicht mehr, was dann passierte. Alles, woran ich mich noch erinnere, ist das viele Blut.
Das, Mädels, war das erste Mal, aber bestimmt nicht das letzte.«
Den anderen gefiel Sanâas Bericht nicht. Die Geschichte von einem Lehrer und seiner Schülerin war nichts Neues, im Gegenteil, sie war sogar ziemlich abgedroschen.
Als Nächste erzählte Sonja: »Mein Vater fischte Störe im Kaspischen Meer. Dann kamen schwere Zeiten, ein Jahr lang ging es immer nur abwärts. Eines Nachts kam er wütend nach Hause. Er verprügelte meine Mutter, dann kam er zu mir ins Zimmer und …«
Sanâa schrie ihr ins Gesicht, Diana dolmetschte: »Sag nicht, dass dein Vater dich vergewaltigt hat!«
»Doch, er war der Erste, der sich an mir vergangen hat.«
»Das kann nicht sein, du lügst!«
»Wieso sollte ich lügen?«
Diana kam nicht mehr zum Dolmetschen, denn Sanâa stürzte sich wie eine mordlustige Bestie auf Sonja. Anfangs verteidigte diese sich nur, ab einem gewissen Punkt drosch sie aber mit der gleichen Wucht zurück. Schreie, Ohrfeigen, Schläge. So heftig ging es zu, dass Diana und Nadeschda dachten, eine der beiden würde die Nacht nicht überleben.
I nfolge der gewalttätigen
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