Arche Noah | Roman aus Ägypten
Nabîl liebte seinen Beruf nicht ganz so sehr wie der Vater. Ihm reichte es, ein guter Geschäftsmann zu sein, und das war er auch. Die Apotheke war nur wenige Meter vom Haus entfernt, das er ebenfalls von seinem Vatergeerbt hatte und in dem er mit Frau und Kindern lebte. Er hatte Sylvia, Michael und Carol von klein auf zum Tennisspielen angehalten, beharrlich und mit Nachdruck, bis sie sich zu den Spitzenspielern im Klub entwickelten. Am weitesten aber hatte es Carol gebracht. Dank ihrer angeborenen Disziplin wurde sie eine der besten Tennisspielerinnen ihrer Altersklasse in ganz Ägypten. Da sie extrem viel Zeit aufs Training verwendete, schickte Nabîl sie nicht wie ihre Geschwister auf eine britische, sondern auf eine amerikanische Schule. Er erzählte oft und gern, wie er zum Tennisspielen gekommen war. Bei dieser Gelegenheit gab er auch gleich zum Besten, wie es zu der langen, aber einzigen Tennispause in seinem Leben gekommen war.
»1980 ging ich zum Studium nach Paris. Ich war kaum in der Stadt, da hatte ich mir schon einen Tennisplatz ausgeguckt. Am nächsten Tag ging das Training los. Einmal setzte ich mich ins Café Les Deux Magots am Boulevard Saint-Germain. Ich wollte mir einen Eisbecher und einen Croque-Madame genehmigen. Und siehe da, wem begegne ich? Meinem Schicksal, Frau Nivîn höchstpersönlich. Sie sass da, eine Brille auf der Nase, seriös, in der linken Hand ein Buch. Klein, brünett, kein Gramm Fleisch auf den Knochen, blass im Gesicht, Nase und Mund winzig. Das Kleid war fad, irgendwo zwischen grau und beige, es erinnerte mich an eine triste Schuluniform. Sie trank ein Glas Tee. Warum fühlte ich mich zu ihr hingezogen? Warum habe ich mich verliebt und liebe sie bis heute? Ich weiss es nicht. Ich versuchte, Kontakt aufzunehmen, aber sie hatte um ihren Tisch eine undurchdringliche Mauer gezogen. Dann kam Madeleine hinzu, eine gemeinsame Freundin,und der Funke sprang über. Ich gab das Tennisspielen auf und fing damit erst hier wieder an, sechs Jahre nach unserer Rückkehr aus Paris.«
B ei der Ankunft in Montreal erlebte die Familie gleich eine Überraschung: Sie waren alle viel zu warm angezogen. Es war heiss und schwül, also warfen sie nach und nach die schützenden Panzer ab. Nivîns Schwester Mary hatte für sie Zimmer im Hôtel de Paris reserviert, einem historischen Gebäude aus dem Jahre 1865 unweit der Altstadt und nur wenige Schritte vom herrlichen Parc La Fontaine entfernt. Von der Reise noch völlig erschöpft, unternahmen die Scharubîms am ersten Tag nichts.
Um Mitternacht waren sie am Kairoer Flughafen eingetroffen. Der Abflug hatte sich etwas verzögert, und sie hatten folglich in der Wartehalle herumgesessen und Zeitung gelesen. Dann viereinhalb Stunden Flug nach Paris, dort fünf elend lange Stunden Wartezeit, anschliessend siebeneinhalb Stunden Flug nach Kanada. Eine wahre Tortur! Nivîn hatte etliche Bücher eingesteckt, Nabîl und Carol hatten ihre Playstations mitgenommen, er hatte Pro Evolution Soccer, sie Little Aid gespielt. Michael hatte vorwiegend geschlafen und nur zum Essen die Augen geöffnet. Die schöne Sylvia hatte in einem fort Liebeslieder gehört, die sie zuvor auf ihren zwanzig Gigabyte fassenden iPod geladen hatte, und von Taimûr, ihrem Liebsten, geträumt.
Am zweiten Tag standen sie früh auf und gingen als Erstes zu Fuss zur McGill-Universität, die unweit des Hotels lag, einer englischsprachigen Hochschule im frankophonen Montreal, gegründet 1821 von dem schottischen GeschäftsmannJames McGill. Als die fünf durch das Tor in der alten Mauer den Campus betraten, waren sie überwältigt: lauter Paläste in einem sattgrünen Park. Sie betraten eines der Gebäude und bekamen von einer chinesisch aussehenden Angestellten Informationen über die Einrichtung. Der Etat für die wissenschaftliche Forschung betrage im Jahr 2005/2006 397 Millionen Dollar. Jährlich würden rund hundert Patente angemeldet. Die Studenten kämen aus 140 Ländern, die Universität biete 300 Fächer an. Das Lehrpersonal sei im Weltmassstab von höchstem akademischem Niveau und treibe die Wissenschaft in Kanada aktiv voran. Nach diesen Erläuterungen erkundete die Familie bei einem Spaziergang das Gelände und einige Fakultäten.
E s ist empörend! Die medizinische Fakultät hier ist wirklich schlimm. Wie weit ist es mit uns nur gekommen? Mein Vater hat immer betont, dass das Kasr-al-Aini-Klinikum zu seiner Zeit medizinisch besser dastand als die Universität in England, an der
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