Arche Noah, Touristenklasse
Wohnung sitzt - zitternd vor Kälte, weil sie nur ganz leicht bekleidet ist - die zweite Preisträgerin der Schönheitskonkurrenz um den Titel der Miss Cöte d'Azur. Ein untersetzter Mann mit Brille schreit sie an:
»Entweder Sie zahlen morgen früh«, schreit er, »oder ich werfe Sie hinaus!«
Kein Zweifel, es ist der Hausbesitzer. Die Dinge beginnen Gestalt anzunehmen. Es handelt sich um Mord Nr. 119.
»Monsieur Boulanger«, beschwört ihn bebend Miss Cöte d'Azur II. »Warten Sie doch wenigstens bis morgen mittag ... Mein Vater ist krank ... Schnupfen ... vielleicht eine fiebrige Erkältung.«
Boulanger entdeckt die Reize der jungen Dame. In seinen Augen glimmt es unmißverständlich auf. Er kommt näher, schleimig, widerwärtig, speichelnd.
»Hahaha«, lacht er, und zur Sicherheit nochmals: »Hehehe. Wenn Sie nett zu mir sind, Valerie, dann läßt sich vielleicht etwas machen.«
Jetzt wird es delikat. Er beginnt sie zu entkleiden. (Man erinnert sich, daß sie schon vom Start weg sehr wenig anhatte.) Sie versucht sich ihm zu entwinden. Die Männer im Publikum ballen in ohnmächtiger Wut ihre Fäuste. Valerie weicht zurück, bis sie aus Gründen der hinter ihr angebrachten Wand nicht weiterkann. Die Vergewaltigung, das sieht wohl jeder, ist nur noch eine Frage von Sekunden.
Aber da - gerade in diesem Augenblick - wird das Fenster aufgestoßen und ein Mann in schwarzem Regenmantel springt ins Zimmer. Ein Mann? Ein Koloß. Ein bärtiger Riese. In seinen Augen mischt sich unergründliches Leid mit unerbittlicher Entschlossenheit.
Boulanger hat allen Geschmack an dem kleinen Abenteuer verloren. Er befindet sich in einer recht unangenehmen Lage, um so mehr, als er verheiratet ist.
»Wer sind Sie?« fragt er. »Was wollen Sie?«
Leise und dennoch mit unheimlicher Schärfe antwortete der Riese:
»Ich bin Ihr Mörder, Boulanger.«
»Das will mir gar nicht gefallen«, stammelt Boulanger. »Was habe ich Ihnen getan?«
»Sie haben mir gar nichts getan, Boulanger«, lautet die Antwort des raunenden Riesen. »Andere besorgten das für Sie.«
Rückblendung.
Weit in der Vergangenheit. Eine arme Familie ist im Begriff, auf die Straße gesetzt zu werden. Des Vaters Brust hebt und senkt sich in stummer Verzweiflung, der Mutter lautes Schluchzen dringt herzzerreißend durch den Raum. Ein kleines Kind mit einem kleinen Wagen steht verloren in der leeren Zimmerecke. Plötzlich nimmt der kräftig gebaute Junge einen Anlauf und springt den grausamen Hausherrn an, dem daraufhin die Brillengläser zu Boden fallen. Das wohlgeformte Kind zertrampelt sie.
Von alledem sieht Boulanger natürlich nichts, weil er sich ja auf der Leinwand befindet und nicht im Zuschauerraum.
Er hat also keine Ahnung, aus welchen tieferen psychologischen Ursachen die Hände des Riesen sich jetzt um seine Kehle schließen und ihn in den seligen Herrn Boulanger verwandeln. Seine Brillengläser fallen zu Boden. Schon sind sie zertrampelt. Bravo. Wir alle stehen auf der Seite des Mörders. Ein Blutsauger weniger. Am liebsten würden wir dem bärtigen Riesen anerkennend auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut gemacht, Gustl, alter Junge!« Jedoch ... Jedoch: was ist mit Valerie? Valerie scheint eine alberne Ziege zu sein. Man kennt diesen Typ. Statt ihrem Retter zu danken, stürzt sie aus dem Zimmer und die Stiegen hinauf, wobei sei kleine hysterische Schreie ausstößt. Schweratmend folgt ihr der Koloß. Was will er von ihr? Unser Gerechtigkeitssinn sträubt sich. Bei aller Anerkennung seines menschlichen Vorgehens dem Hausherrn gegenüber - dieses Mädchen trägt ja nicht einmal eine Brille. Er brauchte sich also nicht mit ihr abzugeben.
Valerie erreicht das Zimmer ihres kranken Vaters und schlüpft durch die Tür, die sie von innen versperrt.
»Ich habe ihn gesehen«, keucht sie. »Den Mörder ... das Monstrum ... Boulanger ... tot ... endlich ... entsetzlich ... Telephon ... Polizei.«
So sind die Weiber. Noch vor wenigen Augenblicken hat dieser Mann sie vor dem Schlimmsten bewahrt - und jetzt liefert sie ihn dem Auge des Gesetzes aus.
Der knochige Finger des Vaters zittert in Großaufnahme, als er die Wählscheibe dreht. Von draußen pumpert der verratene Mörder an die Türe. Er hört zum Glück jedes Wort, das drinnen gesprochen wird. Spute dich, Freund, sonst ist es aus mit dir ...
»Hallo«, röhrt der sieche Vater in die Muschel. »Polizei? Kommen Sie rasch! Der Mörder! Meine Tochter hat den Mörder gesehen.«
Im Hauptquartier lauscht
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