Archer Jeffrey
daß wir dich vor deiner Abfahrt nicht gesehen haben, obwohl man an unserem Laden vorbeifährt, wenn man auf die A1 kommen will.«
Nicht schon wieder, Mutter, wollte er sagen.
Der zweite Anruf kam von einem Kollegen, der fragte, ob man Raymond eine Stellung angeboten habe.
»Bis jetzt nicht«, sagte Raymond und erfuhr von der Beförderung seines Altersgenossen.
Der dritte Anruf kam von einer von Joyces Freundinnen. »Wann kehrt sie zurück?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Raymond und versuchte verzweifelt, die Leitung frei zu halten.
»Ich werde am Nachmittag noch einmal anrufen.«
»Gut«, sagte Raymond und legte rasch den Hörer auf.
Er ging in die Küche, um sich ein Käsesandwich zu machen, aber es gab keinen Käse, also aß er hartes Brot mit Butter, die drei Wochen alt war. Als er bei der zweiten Scheibe angelangt war, klingelte wieder das Telefon.
»Raymond?«
Er hielt den Atem an.
»Hier Noel Brewster.«
Es war die Stimme des Pfarrers.
»Können sie das erste Kapitel lesen, wenn Sie das nächstemal in Leeds sind? Wir hatten eigentlich gehofft, Sie würden es heute morgen lesen – Ihre liebe Frau …«
»Ja«, versprach er, »am ersten Wochenende, das ich in Leeds verbringe.« Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, als es wieder klingelte.
»Raymond Gould?« fragte eine unbekannte Stimme.
»Am Telefon.«
»Der Premierminister möchte Sie sprechen.«
Raymond wartete. Die Haustür wurde geöffnet, und eine andere Stimme rief: »Ich bin es. Du hast vermutlich nichts zu essen gefunden, mein armer Schatz.« Joyce kam zu Raymond ins Wohnzimmer.
Ohne sie anzusehen, winkte er, sie solle ruhig sein.
»Ray«, sagte eine Stimme am Telefon.
»Guten Tag, Herr Premierminister«, erwiderte er eher formell, als Antwort auf den starken Yorkshire Akzent.
»Ich hoffe, Sie können als Unterstaatssekretär im Arbeitsministerium in unserem neuen Team mitarbeiten?«
Raymond atmete erleichtert auf. Genau das war es, was er gewollt hatte. »Mit dem größten Vergnügen.«
»Gut, da werden die Gewerkschaftler es nicht ganz leicht haben.« Der Hörer wurde aufgelegt.
Raymond Gould, Unterstaatssekretär im Arbeitsministerium, saß bewegungslos auf der dritten Stufe der Leiter.
Als er am nächsten Morgen das Haus verließ, wurde er von einem Chauffeur begrüßt, der neben einem glänzenden schwarzen Austin Westminster stand. Anders als sein eigener Sunbeam aus zweiter Hand, funkelte der Wagen im Morgenlicht. Die hintere Tür wurde geöffnet, und Raymond stieg ein, um zum Ministerium zu fahren. Zum Glück weiß er, wo mein Büro ist, dachte Raymond. Neben ihm lag eine rote Lederschatulle in der Größe einer umfangreichen Aktentasche mit Goldbuchstaben am Rand: Under Secretary of State für Employment. Raymond drehte den kleinen Schlüssel. Die Schatulle enthielt eine Menge ledergebundener Mappen. Er öffnete die erste: »Ein Fünf-Punkte-Plan, wie die Arbeitslosigkeit unter einer Million gehalten werden kann. Zur Besprechung im Kabinett.« Sofort vertiefte er sich in das engbeschriebene Dokument.
Als Charles Dienstag ins Parlament kam, erwartete ihn eine Nachricht vom Büro des Whips. Jemand vom Team für Umweltfragen hatte bei der Wahl seinen Sitz verloren, und Charles wurde zur Nummer Zwei auf der Oppositionsbank befördert. »Nichts mehr über die Erhaltung der Bäume. Jetzt erwarten dich wichtigere Dinge«, schmunzelte der Fraktionschef. »Luftverschmutzung, Wassermangel, Abgase…«
Charles lächelte erfreut, als er durch das Parlament wanderte, alte Kollegen grüßte und eine Reihe von neuen Gesichtern sah. Er unterhielt sich mit keinem der Neulinge, da er nicht wußte, ob sie von seiner oder von der Labour-Partei waren; nach dem Wahlausgang zu schließen, waren die meisten vermutlich Sozialisten. Ein Ordner im Frack übergab ihm eine Nachricht; einer seiner Wähler erwartete ihn in der Eingangshalle. Er eilte an einigen seiner älteren Kollegen vorbei, die alle ein bißchen verloren aussahen. Ein paar von ihnen würden lange warten müssen, bis sie wieder ein Amt bekamen, und manche wußten, daß sie zum letztenmal Minister gewesen waren. Charles hatte rasch begriffen, daß das richtige Alter und der richtige Zeitpunkt in der politischen Karriere eines Mannes eine wesentliche Rolle spielte, auch wenn er noch so tüchtig war.
Aber mit fünfunddreißig Jahren kümmerten Charles diese Überlegungen nicht; er ging auf seinen Wähler zu. Er war ein Master of Hounds mit roten Backen, der nach London gekommen war, um sich über einen
Weitere Kostenlose Bücher