Archer Jeffrey
Dieses Zimmer teilte er die ersten neun Jahre seines Lebens mit seiner kranken Großmutter, die schließlich mit einundsechzig Jahren starb.
Mit der alten Frau, die ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren hatte, zusammenzuleben, schien dem Jungen anfangs romantisch. Begeistert lauschte er ihren Erzählungen von dem heldenhaften Mann in seiner schönen Uniform – einer Uniform, die jetzt sorgsam gefaltet in der untersten Lade der Kommode lag, aber auf der verblaßten Fotografie neben ihrem Bett noch zu sehen war. Bald aber stimmten ihn die Geschichten traurig; er wurde sich bewußt, daß die Großmutter seit fast dreißig Jahren verwitwet war. Als ihm klar wurde, wie wenig sie von der Welt gesehen hatte – nichts als diese enge Stube, die ihren ganzen Besitz und ein gelbes Kuvert mit fünfhundert ungültigen Kriegsanleihescheinen enthielt, wurde sie für ihn zu einer tragischen Figur.
Daß Rays Großmutter ein Testament machte, war eher sinnlos, denn alles, was er erbte, befand sich in diesem einen Zimmer. Über Nacht wurde es zu seiner Studierstube, vollgestopft mit Bibliotheks- und Schulbüchern. Erstere gab er meistens zu spät zurück, und die Geldstrafen dezimierten sein geringes Taschengeld. Seinem Vater aber wurde mit jedem neuen Schulzeugnis klarer, daß er das Schild über dem Fleischerladen nicht auf »Gould und Sohn« würde ändern können.
Kurz nach seinem elften Geburtstag gewann Ray das höchstdotierte Stipendium für die Raundhay Grammar School. Mit der ersten langen Hose, die seine Mutter um einige Zentimeter kürzte, und einer Hornbrille, die nicht ganz paßte, machte er sich auf den Weg in die neue Schule.
Hoffentlich gibt es noch andere, die so mager und voller Pickel sind wie mein Sohn, dachte die Mutter, hoffentlich wird man ihn nicht wegen seiner roten Haare hänseln. Nach dem ersten Semester stellte Ray erstaunt fest, daß er seinen Klassenkameraden weit voraus war, so weit, daß der Direktor beschloß, ihn in eine höhere Klasse zu stecken – »um den Jungen ein wenig zu fordern«, wie er Rays Eltern erklärte.
Am Ende des Jahres, das er hauptsächlich im Klassenzimmer verbracht hatte, war Ray der Drittbeste seiner Klasse und der Beste in Englisch und Latein. Nur im Mannschaftssport war Ray stets der Schlechteste. Sein Kopf mochte noch so gut sein, sein Körper hielt mit ihm nicht Schritt. Seine größte akademische Leistung in diesem Jahr aber war der erste Preis im Aufsatzwettbewerb; damit wurde er zum jüngsten Sieger in der Geschichte der Schule. Bei der Jahresabschlußfeier mußte der Gewinner des Wettbewerbs seinen Aufsatz vor den versammelten Schülern und Lehrern vorlesen. Noch bevor Ray seinen Aufsatz eingereicht hatte, hatte er allein in seinem Arbeitszimmer das Vorlesen geübt, um gut vorbereitet zu sein, wenn man den Sieger bekanntgab.
Rays Klassenlehrer hatte den Schülern die Themenwahl überlassen, mit der Einschränkung, daß es sich um eine einzigartige persönliche Erfahrung handeln mußte. Sechs Wochen später, am Tag des Abgabetermins, lagen siebenunddreißig Aufsätze auf seinem Schreibtisch. Er las Rays Schilderung des Lebens seiner Großmutter in dem kleinen Zimmer über dem Fleischerladen und verspürte keine Lust mehr, noch irgendeinen anderen Aufsatz zur Hand zu nehmen. Als er sich pflichtbewußt durch die anderen Hefte durchgekämpft hatte, empfahl er ohne Zögern Ray Gould für den Preis. Nur der Titel gefiele ihm nicht so recht, sagte er seinem Schüler. Ray dankte für den Rat, ließ den Titel jedoch unverändert.
Am Tag der Abschlußfeier versammelten sich siebenhundert Schüler und ihre Eltern im Festsaal. Nachdem der Direktor eine Rede gehalten hatte und der Applaus verklungen war, erklärte er: »Ich werde jetzt den Sieger im Aufsatzwettbewerb bitten, seine Arbeit vorzulesen: Ray Gould.«
Ray verließ seinen Platz und marschierte selbstbewußt zum Podium. Er blickte auf die zweitausend erwartungsvollen Gesichter hinab, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Ängstlichkeit – zum Teil vermutlich, weil er nur bis zur dritten Reihe sehen konnte. Als er den Titel seiner Arbeit nannte, begannen einige der jüngeren Schüler zu kichern, so daß Ray die ersten Zeilen ein wenig stockend vorlas. Doch als er zur letzten Seite kam, war der überfüllte Saal ganz still, und als er den letzten Absatz beendet hatte, erhielt er die erste stehende Ovation seiner Karriere.
Der zwölfjährige Ray Gould verließ das Podium und setzte sich zu seinen Eltern. Die Mutter
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