Archer Jeffrey
Abends fiel es ihr immer schwerer, das Täuschungsmanöver aufrechtzuerhalten. Aber vielleicht werden wir uns nie mehr wiedersehen, und dann ist alles gleichgültig, dachte sie.
Als der Abend seinem Ende zuging und keiner von ihnen mehr Kaffee trinken konnte, verließen sie Allen’s, und Richard suchte ein Taxi; alle, die vorüberfuhren, waren besetzt.
»Wo wohnst du?« fragte er.
»In der 57.«, sagte sie, ohne nachzudenken.
»Gut, gehen wir zu Fuß«, schlug Richard vor und nahm Florentynas Hand.
Sie lächelte zustimmend. Sie gingen, blieben vor Schaufenstern stehen, lachten, unterhielten sich. Keiner von ihnen bemerkte die vorüberfahrenden leeren Taxis. Sie brauchten beinahe eine Stunde, um die sechzehn Blocks entlangzugehen, und fast hätte Florentyna Richard die Wahrheit gesagt. Als sie die 57. Straße erreichten, blieb sie hundert Meter vor ihrer Wohnung vor einem kleinen alten Apartmenthaus stehen.
»Hier wohnen meine Eltern«, sagte sie.
Er schien zu zögern, dann gab er ihre Hand frei.
»Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen«, sagte Richard.
»Gern«, sagte Florentyna höflich und bescheiden.
»Vielleicht morgen?« bat Richard unsicher.
»Morgen?«
»Ja, warum gehen wir nicht ins ›Blue Angel‹ und sehen uns Bobby Short an?«
Wieder nahm er ihre Hand. »Das wäre ein wenig romantischer als Allen’s.«
Einen Moment lang war Florentyna verwirrt. Ihre Pläne mit Richard hatten kein »Morgen« vorgesehen.
»Natürlich nicht, wenn du keine Lust hast«, fügte er hinzu, bevor sie etwas sagen konnte.
»Doch, ich möchte sehr gern«, sagte sie leise.
»Ich gehe mit meinem Vater essen, kann ich dich um zehn Uhr abholen?«
»Nein, ich werde dich dort treffen. Es ist ja nur zwei Blocks entfernt.«
»Gut, also um zehn Uhr.«
Er beugte sich vor und küßte sie zart auf die Wange. »Gute Nacht, Jessie«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.
Langsam ging Florentyna zu ihrer Wohnung zurück; sie wünschte, sie hätte nicht so viele Lügen erzählt. Vielleicht war alles in ein paar Tagen vorüber? Aber eigentlich wollte sie das gar nicht.
Maisie, die ihr nicht verziehen hatte, verbrachte einen großen Teil des nächsten Tages damit, sie nach Richard auszufragen. Vergeblich versuchte Florentyna, das Thema zu wechseln.
Florentyna verließ Bloomingdale sofort nach Geschäftsschluß; zum ersten Mal in fast zwei Jahren ging sie vor Maisie weg. Sie nahm ein Bad, zog das hübscheste Kleid an, das - in ihrem Fall gerade noch möglich war, und ging zum ›Blue Angel‹. Als sie ankam, stand Richard bereits vor der Garderobe und erwartete sie. Er hielt sie an der Hand, als sie den Vorraum betraten, wo sie bereits Bobby Short hören konnten:
»Are you telling me the truth, or am I just another lie?«
Als Florentyna das Lokal betrat, hob Short grüßend den Arm. Florentyna gab vor, es nicht zu bemerken. Mr. Short war zwei-, dreimal im Baron aufgetreten, und Florentyna hätte nie gedacht, daß er sich an sie erinnerte. Richard war zuerst verblüfft, dann meinte er, daß der Gruß jemand anderem gegolten hatte. Als sie sich in dem schwach erleuchteten Saal an einen Tisch setzten, drehte Florentyna dem Klavier vorsichtshalber den Rücken zu.
Ohne ihre Hand loszulassen, bestellte Richard eine Flasche Wein und erkundigte sich nach ihrem Tagesablauf. Sie wollte ihm nichts vormachen. Sie wollte die Wahrheit sagen. »Richard, ich muß dir…«
»Hallo, Richard.«
Ein großer, gutaussehender Mann kam an ihren Tisch.
»Hallo, Steve. Darf ich euch bekannt machen: Jessie Kovats - Steve
Mellon. Steve und ich waren zusammen in Harvard.«
Florentyna hörte zu, als sich die beiden über die New York Yankees unterhielten, über Eisenhowers Handicap beim Golf, und warum Yale immer schlechter wurde. Endlich verabschiedete sich Steve mit einem höflichen »Hab mich gefreut, Sie kennenzulernen, Jessie«.
Der Augenblick war vorüber.
Richard erzählte ihr von seinen Plänen, was er tun wollte, wenn er die Business School beendet hätte; er hoffte, dann nach New York zu kommen und in die Bank seines Vaters einzutreten. Den Namen Lester-Bank hatte Florentyna schon einmal gehört, aber sie erinnerte sich nicht, in welchem Zusammenhang. Aus irgendeinem Grund ging ihr der Name nicht aus dem Kopf. Sie verbrachten einen langen Abend zusammen; sie lachten, sie aßen, sie hörten Bobby Short zu. Auf dem Heimweg blieb Richard an der Ecke der 57. Street stehen und küßte sie zum erstenmal. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen ersten Kuß so
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