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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kain und Abel
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Stunden Ruhezeit in den unteren Verliesen. Außer dem Baron und Florentyna wußte niemand genau, wann Wladek eigentlich schlief, da er jeden Schichtwechsel persönlich überwachte. Alle zwölf Stunden wurde Essen verteilt. Die Wächter brachten Ziegenmilch, schwarzes Brot, Hirse und ein paar Nüsse; Wladek teilte das Essen in achtundzwanzig Portionen, wobei der Baron, ohne dessen Wissen, stets zwei Portionen erhielt. Die neuen Bewohner der Verliese fanden es nicht sonderbar, daß ein Neunjähriger ihren Tageslauf bestimmte; die Einkerkerung hatte ihren Gleichmut in dumpfe Betäubung verwandelt.
    Sobald Wladek alle Schichten organisiert hatte, kehrte er in den kleinen Kerker zum Baron zurück. Anfangs hatte er Hilfe und Richtlinien von ihm erwartet, doch der starre Blick seines Herrn war - auf seine Art - ebenso undurchdringlich und trostlos wie derjenige der ständig wechselnden deutschen Wachen. Von dem Moment an, in dem man den Baron in seinem eigenen Schloß zum Gefangenen gemacht hatte, sprach er kein einziges Wort mehr. Der Bart fiel ihm glanzlos und matt auf die Brust, und aus dem kräftigen Hünen wurde ein schwacher Greis. Der einst so stolze Blick war einem Ausdruck tiefer Resignation gewichen. Wladek konnte sich kaum mehr an die geliebte Stimme seines Herrn erinnern und gewöhnte sich an den Gedanken, daß er sie nie mehr hören würde. Nach einer Weile fügte er sich dem unausgesprochenen Wunsch des Barons und schwieg in dessen Gegenwart.
    Wladek hatte, als er noch in der Sicherheit des Schlosses gelebt hatte und von morgens bis abends mit allen Möglichkeiten beschäftigt gewesen war, nie an den vergangenen Tag gedacht. Jetzt war er nicht einmal imstande, sich an die vergangene Stunde zu erinnern, denn es änderte sich nichts; hoffnungslose Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen und schließlich zu Monaten. Er verlor jedes Zeitgefühl. Nur die Essensausgabe, Licht oder Dunkelheit wiesen darauf hin, daß wieder zwölf Stunden vergangen waren. Die Intensität des Lichtes, das Einsetzen der Stürme, das Eis, das sich an den Kerkerwänden bildete und erst schmolz, als die Sonne wiederkehrte - das alles zeigte die Jahreszeiten auf eine Art an, wie sie Wladek im Naturgeschichtsunterricht nie hätte lernen können. Während der langen Nächte spürte Wladek den Geruch des Todes, der die fernsten Ecken der vier Verliese erfüllte, noch stärker. Nur ein gelegentlicher Strahl der Morgensonne, eine kühle Brise oder ein ersehnter Regen milderten die Penetranz dieses Geruches.
    Am Ende eines stürmischen Tages machten sich Wladek und Florentyna den Regen zunutze und wuschen sich in einer Wasserpfütze in einem der oberen Kerker. Keiner von ihnen merkte, daß der Baron interessiert zuschaute, als Wladek sein zerrissenes Hemd auszog, sich wie ein junger Hund in dem relativ sauberen Wasser hin- und herrollte und sich solange rieb, bis auf seinem Körper weiße Streifen erschienen. Plötzlich sprach der Baron.
    »Wladek«, sagte er, die Worte waren kaum hörbar -, »ich kann dich nicht genau sehen, komm näher.«
    Nach so langem Stillschweigen erschrak Wladek über die Stimme seines Herrn und schaute nicht einmal in die Richtung, aus der sie kam. Er war überzeugt, daß dies der Beginn des Wahnsinns sein müsse, der bereits zwei Dienstleute umfangen hatte.
»Komm her, mein Junge.«
Ängstlich folgte Wladek der Aufforderung und stellte sich vor den
    Baron, der die geschwächten Augen zusammenkniff und alle Kraft zusammennahm, um seine Hand auszustrecken. Er fuhr mit dem Finger über Wladeks Brust und schaute sie ungläubig an.
    »Wladek, kannst du diesen kleinen Geburtsfehler erklären?« »Nein, Herr«, antwortete Wladek verlegen. »Meine Ziehmutter pflegte zu sagen, es sei ein Mal, das der Herrgott hinterlassen hat.« »Dumme Frau. Es ist das Mal deines eigenen Vaters«, sagte der Baron leise und versank einige Minuten in Schweigen.
     
    Wladek blieb vor ihm stehen und bewegte keinen Muskel.
    Als der Baron wieder sprach, war seine Stimme fest. »Setz dich, mein Junge.«
Wladek folgte gehorsam. Beim Niedersetzen fiel ihm wieder das schwere Silberband auf, das jetzt locker um das Handgelenk des Barons hing. Ein Lichtstrahl, der im Dunkel des Kerkers durch einen Mauerspalt einfiel, brachte die herrliche Gravur des Rosnovskischen Wappens zum Aufleuchten.
»Ich weiß nicht, wie lange die Deutschen uns hier festzuhalten beabsichtigen. Zuerst dachte ich, dieser Krieg würde in ein paar Wochen vorüber sein. Ich irrte

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