Archer Jeffrey
mich, und jetzt müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß er noch sehr lang dauern kann. Deshalb müssen wir die Zeit besser nutzen; ich weiß, daß mein Lebensende nahe ist.«
»Nein, nein«, begann Wladek zu protestieren, doch der Baron fuhr fort, als hätte er ihn nicht gehört.
»Dein Leben fängt erst an, mein Kind. Ich werde daher deine Erziehung fortsetzen.«
An diesem Tag sprach der Baron nicht mehr. Es war, als müsse er die Folgen seiner Ankündigung überlegen. So gewann Wladek einen neuen Lehrer, und da weder Lese- noch Schreibmaterial verfügbar war, mußte Wladek alles wiederholen, was der Baron vortrug. Er lernte große Stücke aus den Gedichten von Adam Mickiewicz und Jan Kochanowski auswendig und lange Passagen aus der Aeneis. Er lernte im Kerker Geographie, Mathematik und vier Sprachen: Russisch, Deutsch, Französisch und Englisch. Aber seine glücklichsten Momente kamen, wie schon früher, wenn er Geschichte lernte: Die Geschichte seines Volkes während hundert Jahren der Teilung, die vergeblichen Hoffnungen auf ein geeintes Polen, die Verzweiflung der Polen, als Napoleon 1812 von den Russen besiegt wurde. Er lernte von stolzen Taten und Ereignissen früherer und glücklicherer Zeiten, als König Jan Kasimir, nachdem er die Schweden bei Tschenstochau zurückgeschlagen hatte, Polen der heiligen Jungfrau weihte; er erfuhr, wie der mächtige Prinz Radziwill, der große Gutsherr und Liebhaber der Jagd, in seinem Schloß bei Warschau hofgehalten hatte. Die letzte Unterrichtsstunde jeden Tages war der Familiengeschichte der Rosnovskis gewidmet. Wieder und wieder hörte Wladek - und wurde niemals müde, es zu hören -, wie der berühmte Vorfahre des Barons 1794 unter General Dabrowski und 1809 unter Napoleon gedient hatte, und von dem großen Kaiser mit Adelstitel und Landbesitz belohnt worden war. Er lernte, wie der Großvater des Barons Mitglied des Rates von Warschau wurde und sein Vater am Aufbau eines neuen Polens mitgearbeitet hatte. Wladek war sehr glücklich, wenn der Baron das kleine Verlies zu seinem Schulzimmer machte.
Die Wachen an den Kerkertüren wurden alle vier Stunden abgelöst, Gespräche zwischen ihnen und den Gefangenen waren strengstens verboten. In Bruchstücken erfuhr Wladek trotzdem vom Fortgang des Krieges, von Hindenburg und Ludendorff, von der Revolution in Rußland und Rußlands Ausscheiden aus dem Krieg nach dem Vertrag von Brest-Litowsk.
Wladek war beinahe überzeugt, daß nur der Tod ihn aus der Gefangenschaft erlösen würde. Während der folgenden zwei Jahre öffneten sich die Türen nur neunmal, und Wladek fragte sich, ob es ihm bestimmt war, den Rest seiner Tage in diesem schmutzigen Loch zu verbringen und einen vergeblichen Kampf gegen die Verzweiflung zu führen, während er Hirn und Geist, die niemals die Freiheit kennenlernen würden, mit nutzlosem Wissen anfüllte.
Obwohl seine Sehkraft und sein Gehör deutlich nachließen, fuhr der Baron mit dem Unterricht fort. Jeden Tag mußte sich Wladek ein wenig näher zu ihm setzen.
Florentyna - seine Schwester, Mutter und beste Freundin - bekämpfte die Unbilden des Gefängnisses auf handgreiflichere Weise. Von Zeit zu Zeit bekam sie von den Wärtern einen Eimer Sand oder etwas Stroh, um den verschmutzten Boden damit zu bedecken. Das milderte für ein paar Tage den Gestank. Ungeziefer kroch in der Dunkelheit umher, suchte nach Brotkrumen oder Abfall, verbreitete Krankheit und vermehrte den Schmutz. Der saure Geruch von Urin und Fäkalien war allgegenwärtig und verursachte Wladek regelmäßig Übelkeit. Vor allem sehnte er sich danach, einmal sauber zu sein, und er verbrachte Stunden damit, gegen die Decke zu starren und sich an die Zuber mit dampfendem heißen Wasser und an die gute rauhe Seife zu erinnern, mit der Niania ihn und Leon nach einem Tag fröhlichen Spiels abgeschrubbt hatte, während sie freundlich über schmutzige Fingernägel und verschmutzte Knie schimpfte. Ganz nahe von hier war das gewesen, aber wie lange war es schon her!
Im Frühjahr 1918 waren nur noch fünfzehn der sechsundzwanzig Gefangenen, die man mit Wladek eingekerkert hatte, am Leben. Der Baron wurde von allen als der Gebieter und Wladek als sein persönlicher Adlatus behandelt. Am traurigsten war Wladek über seine geliebte Florentyna, die jetzt, mit zwanzig Jahren, am Leben verzweifelte und überzeugt war, die ihr verbleibenden Tage im Kerker zubringen zu müssen. In ihrer Gegenwart ließ Wladek sich keine Niedergeschlagenheit
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