Archer Jeffrey
anmerken, aber auch er, obwohl erst zwölf Jahre alt, hatte kaum mehr Hoffnung auf eine Zukunft.
An einem Abend im Frühherbst kam Florentyna zu Wladek ins obere Verlies. »Der Baron ruft nach dir.«
Rasch stand Wladek auf, überließ die Essensverteilung einem älteren Diener und ging zu dem alten Mann. Der Baron wand sich in Schmerzen, und Wladek sah mit furchtbarer Klarheit, wie die Krankheit den Baron ausgezehrt hatte, so daß die grünliche Haut einen Totenkopf zu umspannen schien. Der Baron bat um Wasser, und Florentyna brachte einen halbvollen Krug. Als der alte Mann getrunken hatte, sprach er langsam und mit Mühe.
»Du hast den Tod so genau kennengelernt, daß ein weiterer Toter dir nichts ausmachen sollte. Ich habe keine Angst mehr, aus dieser Welt zu scheiden.«
»Nein, nein, das darf nicht sein«, rief Wladek und klammerte sich zum erstenmal in seinem Leben an den alten Mann. »Wir haben es beinahe geschafft, geben Sie nicht auf, Baron. Die Wachen versicherten mir, daß der Krieg zu Ende geht, und dann werden wir bald frei sein.«
»Das versprechen sie uns seit Monaten, Wladek. Wir können ihnen nicht mehr glauben, und ich jedenfalls fürchte, daß ich in der neuen Welt, die sie schaffen, nicht leben möchte.«
Er hielt inne und lauschte dem Schluchzen des Knaben. Der Baron überlegte, die Tränen des Jungen als Trinkwasser zu nutzen, doch dann erinnerte er sich, daß Tränen salzig sind, und lachte.
»Rufe meinen Leibdiener und den ersten Lakai, Wladek.« Wladek tat, wie ihm geheißen, obwohl er nicht wußte, warum der
Baron nach ihnen verlangte.
Die beiden Bediensteten, aus tiefem Schlaf geweckt, kamen herbei und traten vor den Baron. Nach dreijähriger Gefangenschaft war Schlaf ihr einziger Trost. Die beiden trugen immer noch ihre bestickten Uniformen, aber das Grün und das Gold, die stolzen Rosnovskifarben, waren nicht mehr erkenntlich. Die Männer standen schweigend da und warteten auf die Worte ihres Herrn.
»Sind sie hier, Wladek?« fragte der Baron.
»Ja, Herr. Können Sie sie nicht sehen?«
Wladek merkte zum erstenmal, daß der Baron völlig erblindet war. »Bring sie näher, damit ich sie berühren kann.«
Wladek schob die beiden Männer vor, und der Baron berührte ihre
Gesichter.
»Setzt euch«, befahl er. »Könnt ihr mich hören, Ludwik und
Alfons?«
»Ja, Herr.«
»Mein Name ist Baron Rosnovski.«
»Das wissen wir, Herr«, erwiderte der Leibdiener.
»Unterbrich mich nicht«, sagte der Baron. »Ich sterbe.«
Der Tod war etwas so Alltägliches geworden, daß die beiden
Männer nicht widersprachen.
»Ich kann kein neues Testament aufsetzen, weil ich kein Papier,
keine Feder und keine Tinte habe. Ich mache daher mein Testament in
eurer Gegenwart und ihr sollt meine beiden Zeugen sein, wie das im
alten polnischen Gesetz vorgesehen ist. Versteht ihr, was ich sage?« »Ja, Herr«, sagten die zwei Männer gleichzeitig.
»Mein erstgeborener Sohn Leon ist tot.«
Der Baron hielt inne. »Daher vermache ich meine Ländereien und
meinen gesamten Besitz dem Jungen, der als Wladek Koskiewicz
bekannt ist.«
Wladek hatte seinen Familiennamen jahrelang nicht gehört und
verstand die Worte des Barons nicht sofort.
»Als Beweis meines Entschlusses«, fuhr der Baron fort, »gebe ich
ihm das Familienband.«
Langsam hob der alte Mann den rechten Arm, streifte den silbernen
Reifen ab und hielt ihn dem sprachlosen Wladek hin. Dann packte er
den Jungen und fuhr mit den Fingern über seine Brust, als wolle er
sich versichern, daß er es war. »Mein Sohn«, sagte er und legte das
Silberband um das Handgelenk des Jungen.
Wladek weinte und lag die ganze Nacht in den Armen des Barons, bis
er keinen Herzschlag mehr hörte und fühlte, wie die Finger seines
Herrn steif wurden. Am Morgen wurde die Leiche des Barons von den
Wachen entfernt, und man erlaubte Wladek, ihn neben seinem Sohn
Leon im Familienfriedhof bei der Kapelle zu beerdigen. Als der
Körper in das flache, von Wladek mit bloßen Händen gegrabene Grab
hinabgelassen wurde, öffnete sich das zerfetzte Hemd des Barons.
Wladek starrte auf die Brust des toten Mannes. Der Baron hatte nur
eine Brustwarze.
So erbte Wladek Koskiewicz mit zwölf Jahren, während er unter der Erde im Kerker lebte, sechzigtausend Morgen Land, ein Schloß, zwei Herrschaftshäuser, siebenundzwanzig Bauernhäuser und eine wertvolle Sammlung von Gemälden, Möbeln und Juwelen. Von diesem Tag an sahen die Gefangenen in ihm ihren rechtmäßigen Herrn; sein Reich waren vier Verliese,
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