Archer Jeffrey
grobes Hemd und eine graue Hose. Es gelang Wladek, seinen Silberreif zu verbergen; er kehrte wieder zu seinen Dienstleuten vor dem Schloß zurück.
Während alle warteten - sie waren jetzt keine Individuen mehr, sondern Nummern -, hörte Wladek in der Ferne einen Lärm, den er noch nie gehört hatte. Er schaute in die Richtung des bedrohlichen Geräusches. Durch die schweren Eisentore kam ein Gefährt auf vier Rädern, das weder von Pferden noch von Ochsen gezogen wurde. Ungläubig starrten alle Gefangenen auf das Fahrzeug, das sich von selbst bewegte. Als es stehenblieb, schleppten die Soldaten die widerwilligen Gefangenen vor das Gefährt und befahlen ihnen einzusteigen. Dann drehte sich der pferdelose Wagen um und fuhr den Weg zurück und durch das Tor hinaus. Niemand wagte zu sprechen. Wladek saß im hinteren Teil des Wagens und starrte auf das Schloß, bis er die gotischen Türmchen nicht mehr sehen konnte. Der pferdelose Wagen fuhr irgendwie von selbst in Richtung Slonim. Wladek hätte sich den Kopf zerbrochen, wie das Gefährt funktionierte, hätte er sich nicht noch mehr darüber den Kopf zerbrochen, wohin er und die anderen gebracht wurden. Er erkannte einige Straßen aus seiner Schulzeit wieder, aber drei Jahre Kerker hatten sein Gedächtnis geschwächt, und er konnte sich nicht mehr erinnern, wohin die Straße führte. Nach ein paar Meilen hielt das Gefährt an, und alle mußten aussteigen. Man war vor dem Bahnhof angelangt. Wladek hatte den Bahnhof nur einmal im Leben gesehen, als er und Leon den Baron bei seiner Rückkehr aus Warschau abholten. Er erinnerte sich, daß die Wache gegrüßt hatte, als sie auf den Bahnsteig getreten waren; diesmal grüßte keine Wache. Die Gefangenen erhielten etwas Ziegenmilch, Kohlsuppe und schwarzes Brot. Auch jetzt organisierte Wladek die Verteilung, und jeder der vierzehn Gefangenen erhielt seine Portion. In der Annahme, daß man auf einen Zug wartete, setzte er sich auf eine der Holzbänke. In der Nacht schliefen sie alle unter dem Sternenhimmel auf dem Boden - eine willkommene Abwechslung nach den Nächten im Kerker. Er dankte Gott für den milden Winter.
Der Morgen kam, und man wartete immer noch. Wladek ordnete an, daß alle ein paar Schritte gehen sollten, die meisten brachen jedoch nach wenigen Minuten zusammen. Er versuchte sich die Namen derer, die bis jetzt überlebt hatten, einzuprägen. Von den siebenundzwanzig Eingekerkerten waren elf Männer und zwei Frauen übriggeblieben. Übriggeblieben wofür? dachte Wladek. Sie verbrachten den Rest des Tages damit, auf einen Zug zu warten, der nicht kam. Einmal fuhr sogar ein Zug ein, und es stiegen Soldaten aus, die alle die verhaßte Sprache sprachen, aber der Zug rollte wieder an, ohne Wladeks traurigen kleinen Haufen mitzunehmen. Wieder schliefen sie auf dem Bahnsteig.
Wladek lag wach, schaute zum Sternenhimmel auf und überlegte, ob es eine Fluchtmöglichkeit gab. Doch in derselben Nacht lief einer der dreizehn über die Bahngleise und wurde, noch bevor er die andere Seite erreicht hatte, von der Wache niedergeschossen. Wladek starrte auf den Fleck, wo sein Leidensgenosse lag, und hatte Angst, ihm zu Hilfe zu eilen und das gleiche Schicksal zu erleiden. Als Warnung für alle jene, die etwas Ähnliches im Sinne hatten, ließen die Wachen die Leiche auf den Schienen liegen.
Am nächsten Morgen erwähnte niemand den Vorfall, obwohl Wladek immer wieder auf den toten Mann starrte. Es war Ludwik, der Leibdiener des Barons und einer der Zeugen des Testaments und seines Erbes.
Am Abend des dritten Tages fuhr ein anderer Zug ein, mit offenen Güterwagen, gezogen von einer großen Dampflokomotive; auf dem Boden der Waggons lag Stroh, an den Seiten war das Wort »Vieh« geschrieben. Einige Waggons waren bereits voll, voll von Menschen, die so furchtbar ausschauten wie Wladek. Woher sie kamen, konnte Wladek nicht erraten. Er wurde mit seinem Haufen in einen der Waggons verladen, und nach ein paar Stunden bewegte sich der Zug langsam aus der Station. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, ging die Reise nach Osten.
Je drei Wagen wurden von einem Wärter bewacht, der mit gekreuzten Beinen auf dem Wagendach saß. Während der endlosen Reise hörte Wladek gelegentlich Schüsse von oben, die ihm klarmachten, daß jeder Gedanke an eine Flucht vergebens war.
Als der Zug in Minsk stehenblieb, erhielten sie ihre erste ordentliche Mahlzeit: schwarzes Brot, Wasser, Nüsse und Brei. Dann ging die Reise weiter. Manchmal fuhren sie drei
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