Archer Jeffrey
Tage lang, ohne eine Station zu sehen. Viele der Gefangenen verhungerten, und ihre Leichen wurden aus dem Zug geworfen. Wenn der Zug anhielt, warteten sie oft tagelang, um einem westwärts fahrenden Zug die Gleise freizugeben. Diese Züge waren immer voll Soldaten; offenbar hatten Truppentransporte Priorität. Wladek konnte an nichts anderes denken als an Flucht, aber drei Gründe machten alle seine Pläne zunichte: erstens war es noch niemandem gelungen zu fliehen; zweitens gab es auf beiden Seiten der Gleise nichts als Wildnis und drittens waren jene, die das Kerkerdasein überlebt hatten, jetzt völlig auf seinen Schutz angewiesen. Es war Wladek, der die Verteilung von Essen und Trinken organisierte, und es war Wladek, der versuchte, ihren Überlebenswillen zu stärken. Er war der jüngste von ihnen und der einzige, der noch an das Leben glaubte.
Nachts wurde es bitterkalt, oft hatte es minus dreizehn Grad, und sie lagen alle nebeneinander auf dem Boden der Waggons, so daß ein Körper den anderen wärmte. Wladek sagte sich, während er einzuschlafen versuchte, Verse aus der Aeneis vor. Ein Umdrehen war nur möglich, wenn alle einverstanden waren, daher lag Wladek am Ende der Reihe und klopfte nach jeder Stunde - der Wechsel der Wachen gab ihm eine ungefähre Zeitidee - gegen die Wagenwand, worauf sich alle umdrehten und in die andere Richtung schauten. Ein Körper nach dem anderen drehte sich, es sah aus wie Dominosteine, die umfielen. Blieb ein Körper bewegungslos, so wurde Wladek informiert. Er teilte es den Wachen mit, und vier der Männer hoben den leblosen Körper auf und warfen ihn aus dem Zug. Die Wachen jagten ihm ein paar Kugeln nach, um sicherzugehen, daß es sich nicht um einen Fluchtversuch handelte.
Mehr als dreihundert Kilometer hinter Minsk kamen sie in der kleinen Stadt Smolensk an, wo sie warme Kohlsuppe und schwarzes Brot erhielten. In Wladeks Waggon wurden ein paar neue Gefangene gepfercht, die die Sprache der Wachen sprachen; ihr Anführer schien ungefähr so alt zu sein wie Wladek. Wladek und seine verbleibenden zehn Gefährten mißtrauten den Neuankömmlingen, und sie teilten den Waggon so gut es ging, so daß die zwei Gruppen ein paar Tage getrennt blieben.
Eines Nachts, als Wladek wachlag und in den Sternenhimmel starrte, bemerkte er, wie der Anführer der Gruppe aus Smolensk mit einem Stück Strick in der Hand zum letzten Mann in Wladeks Reihe kroch. Er sah, wie er dem schlafenden Alfons, einem Bediensteten des Barons, den Strick um den Hals legte. Wladek wußte, daß der Junge ihn hören und in seine Wagenhälfte flüchten würde, wenn er sich zu rasch bewegte. So kroch er langsam auf dem Bauch die Reihe seiner polnischen Gefährten entlang. Manche starrten ihn an, aber niemand sprach ein Wort. Als er das Ende der Reihe erreicht hatte, stürzte er sich auf den Jungen mit der Schlinge, und sofort war der ganze Waggon wach. Jede Gruppe zog sich in ihre Wagenhälfte zurück, außer Alfons, der bewegungslos vor ihnen lag.
Der Führer der anderen war größer und beweglicher als Wladek, aber da die beiden auf dem Boden kämpften, spielte das kaum eine Rolle. Der Kampf dauerte ein paar Minuten, die Wachen schauten lachend zu und schlossen Wetten auf die beiden Gladiatoren ab. Eine Wache, dem das unblutige Ringen langweilig wurde, warf ein Bajonett in die Wagenmitte. Der Junge aus Smolensk war schneller. Unter dem Beifall seiner Gruppe stieß er das Bajonett in Wladeks Bein, zog den blutbedeckten Stahl heraus und ging zum zweiten Angriff über. Diesmal blieb die Klinge neben Wladeks Ohr im Holzboden des Wagens stecken. Während der gegnerische Führer sie herauszuziehen versuchte, stieß Wladek ihn mit der ganzen ihm verbleibenden Kraft in den Unterleib. Der Junge taumelte zurück und riß im Fallen die Klinge aus dem Holz. Wladek packte den Griff, sprang auf seinen Widersacher zu und trieb ihm die Klinge in den Mund. Der Kerl stieß einen solchen Schrei aus, daß der gesamte Zug erwachte. Wladek zog die Klinge mit einer leichten Drehung heraus, und stieß wieder zu, wieder und wieder, noch lange, nachdem der Körper sich zu bewegen aufgehört hatte. Schweratmend kniete Wladek über ihm, dann packte er die Leiche und warf sie aus dem Wagen. Er hörte den Aufprall auf der Böschung und die Schüsse, die die Wachen dem Körper nachsandten.
Wladek kroch zu Alfons, der immer noch bewegungslos auf den Holzplanken lag, und kniete neben dem leblosen Körper nieder; sein zweiter Zeuge war tot.
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