Archer Jeffrey
Wer würde jetzt glauben, daß er, Wladek, der vom Baron eingesetzte Erbe des gesamten Vermögens war? Hatte sein Leben noch irgendeinen Sinn? Mit beiden Händen nahm er das Bajonett auf und richtete die Klinge gegen seinen Magen. Sofort sprang eine Wache vom Dach und riß ihm die Waffe aus der Hand.
»Oh, nein, das tust du nicht«, brummte er. »Wir brauchen Leute wie dich für die Lager. Du kannst nicht erwarten, daß wir die ganze Arbeit selbst machen.«
Wladek vergrub den Kopf in die Hände und spürte zum erstenmal den brennenden Schmerz in seinem Bein. Er hatte sein Erbe verloren und war statt dessen der Anführer einer Bande von Leuten aus Smolensk geworden, die keinen Groschen besaßen.
Wieder mußte er für einen ganzen Waggon sorgen, und jetzt hatte er zwanzig Gefangene zu betreuen. Er teilte sie sofort, so daß neben jedem Polen ein Smolensker schlief und die Möglichkeit weiterer Zwistigkeiten ausgeschlossen war.
Wladek verbrachte viel Zeit damit, die ihm fremde Sprache zu lernen, und merkte erst nach einigen Tagen, daß es sich um Russisch handelte - so anders war sie als jenes klassische Russisch, das ihn der Baron gelehrt hatte. Die wirkliche Bedeutung seiner Entdeckung erkannte er zum erstenmal, als ihm klar wurde, wohin der Zug sie brachte.
Wladek nahm sich zwei Smolensker als Lehrer, und sobald diese müde waren, holte er sich zwei andere, und so ging es weiter, bis alle erschöpft waren.
Allmählich konnte er sich mit seinen neuen Kumpanen mühelos verständigen. Einige von ihnen waren russische Soldaten, deren Verbrechen darin bestanden hatten, daß sie sich von den Deutschen halten gefangennehmen lassen. Die übrigen waren Weißrussen, Bauern, Bergleute und Arbeiter - Leute, die von der großen Revolution nichts wissen wollten.
Der Zug dampfte durch die Landschaft, die kahler und öder war als alles, was Wladek bisher gesehen hatte, und durch Städte, deren Namen er nie gehört hatte - Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk. Die Namen hatten einen unheimlichen Klang. Nach drei Monaten und an die fünftausend Kilometer erreichten sie Irkutsk, wo die Gleise plötzlich aufhörten.
Man trieb sie aus dem Zug, gab ihnen zu essen und teilte Pelzstiefel, Jacken und Wintermäntel aus. Um die wärmsten Kleidungsstücke entbrannten Kämpfe; doch boten sie nur ungenügenden Schutz gegen die eisige Kälte.
Wieder tauchten pferdelose Wagen auf, ähnlich jenem, mit dem die polnischen Gefangenen aus dem Schloß gefahren waren. Ketten wurden ausgelegt. Und zu Wladeks ungläubigem Entsetzen wurden die Gefangenen mit einer Hand an eine Kette gefesselt, fünfundzwanzig Paare an jeder Seite einer Kette. Die Wagen zerrten die Gefangenen vorwärts, während die Wachen in den Fahrzeugen saßen. So marschierten sie zwölf Stunden lang, durften sich zwei Stunden ausruhen und mußten wieder weitermarschieren. Nach drei Tagen glaubte Wladek, vor Kälte und Erschöpfung zu sterben. Doch als sie das bewohnte Gebiet verlassen hatten, marschierten sie nur noch tagsüber und ruhten während der Nacht. Morgens und abends erhielten sie aus einer von Gefangenen betreuten mobilen Feldküche Rübensuppe und Brot. Von seinen Mitgefangenen erfuhr Wladek, daß die Zustände in den Lagern noch schlimmer seien.
Während der ersten Woche blieben sie ständig angekettet, doch später, als jeder Gedanke an eine Flucht müßig wurde, ließ man sie in der Nacht frei, so daß sie sich Löcher in den Schnee graben konnten. Manchmal, an guten Tagen, fanden sie einen Wald, in dem sie dann kampierten; der Luxus nahm seltsame Formen an. Weiter und weiter marschierten sie, an riesigen Seen vorbei und über gefrorene Flüsse, weiter nach Norden, eisigen Wind und Schneeflocken im Gesicht. Wladek hatte fortwährend Schmerzen in seinem verletzten Bein, aber die Erfrierungen an Fingern und Ohren waren schlimmer. In all dem endlosen Weiß gab es kein Zeichen von Leben oder Nahrung, und Wladek wußte, daß jeder nächtliche Fluchtversuch mit dem Hungertod enden mußte. Die Alten und Kranken, die Glück hatten, starben wortlos und leise bei Nacht; jene, die weniger Glück hatten, wurden, wenn sie nicht mehr Schritt halten konnten, von der Kette genommen und zurückgelassen. Die Überlebenden aber marschierten weiter gegen Norden, bis Wladek jedes Zeitgefühl verlor und nur mehr das unaufhörliche Ziehen der Kette spürte. Wenn er sich abends ein Loch in den Schnee grub, um zu schlafen, war er niemals sicher, ob er am Morgen erwachen würde; jene, die kein
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