Archer Jeffrey
blaß, ihr Gesicht von Fältchen
durchzogen und sie hatte ein wenig Übergewicht, das wenige, das man
bei russischer Kost bekommen kann. Sie hatte kurzes schwarzes Haar
und braune Augen; vermutlich war sie einmal hübsch gewesen. Im
Gepäcknetz lagen zwei große Kleidersäcke, und neben der Frau stand
ein kleiner Koffer. Trotz der gefährlichen Situation, in der Wladek
sich befand, fühlte er sich auf einmal todmüde. Er überlegte, ob er es
riskieren konnte, einzuschlafen, als die Frau ihn ansprach. »Wohin fährst du?«
Wladek war auf die Frage nicht vorbereitet und überlegte rasch.
»Moskau«, sagte er und hielt den Atem an.
»Ich auch«, erwiderte die Frau.
Schon bereute Wladek, daß er sich zu der Frau gesetzt und mit ihr
gesprochen hatte. Sprich mit niemandem, hatte ihn der Arzt gewarnt,
vergiß nicht, vertraue niemandem.
Zu seiner Erleichterung stellte die Frau keine weiteren Fragen. Als
sein Selbstvertrauen wiederkehrte, öffnete sich die Tür und der
Schaffner schaute in das Abteil. Trotz einer Temperatur von minus
zwanzig Grad brach Wladek der Schweiß aus. Der Schaffner nahm
den Fahrschein der Frau, markierte ihn und gab ihn zurück. Dann
wandte er sich an Wladek. »Fahrschein, Genosse«, sagte er in einem
langsamen, monotonen Tonfall.
Wladek wußte nicht, was er sagen sollte, und kramte in seiner
Manteltasche.
»Das ist mein Sohn«, sagte die Frau bestimmt.
Der Schaffner schaute die Frau an und dann Wladek, verbeugte sich
vor der Frau und verließ wortlos das Abteil.
Wladek starrte sie an. »Danke«, hauchte er und wußte nicht, was er
sonst sagen sollte.
»Ich habe beobachtet, wie du unter dem Gefangenenzug
hervorgekommen bist«, bemerkte die Frau leise. Wladek wurde übel.
»Aber ich werde dich nicht verraten. Mein junger Neffe ist in einem
dieser schrecklichen Lager, und wir alle fürchten, eines Tages dort zu
enden. Was hast du unter dem Mantel an?«
Wladek überlegte, ob er den Mantel öffnen oder aus dem Waggon
flüchten sollte. Wenn er den Wagen verließ, gab es keinen Fluchtweg. Er Öffnete den Mantel.
»Nicht so schlimm wie ich dachte«, sagte sie. »Was hast du mit
deiner Gefangenenkleidung gemacht?«
»Aus dem Fenster geworfen.«
»Hoffentlich findet man sie nicht, bevor du Moskau erreicht hast.« Wladek schwieg.
»Kannst du irgendwo in Moskau unterschlüpfen?«
Wieder dachte Wladek an den Rat des Arztes, niemandem zu trauen,
aber er mußte ihr die Wahrheit sagen.
»Ich weiß nicht, wo ich hingehen werde.«
»Dann kannst du bei mir bleiben, bis du eine Unterkunft findest.
Mein Mann«, erklärte sie, »ist Stationsvorstand in Moskau, und dieses
Abteil ist nur für Staatsangestellte. Wenn du noch einmal einen
solchen Fehler begehst, wird man dich nach Irkutsk zurückschicken.« Wladek schluckte. »Soll ich jetzt weggehen?«
»Nein, jetzt hat dich der Schaffner gesehen. Vorläufig hast du nichts
zu fürchten. Besitzt du einen Identitätsausweis?«
»Nein. Was ist das?«
»Seit der Revolution muß jeder Russe einen Identitätsausweis
haben, in dem steht, wer er ist, wo er wohnt und wo er arbeitet. Sonst
wirft man ihn ins Gefängnis, bis er einen Ausweis hat, und da er im
Gefängnis keinen Ausweis bekommt, bleibt er ewig drin«, fügte sie
trocken hinzu. »Du wirst bei mir bleiben, sobald wir in Moskau sind,
und nicht den Mund aufmachen.«
»Sie sind sehr gütig zu mir«, sagte Wladek mißtrauisch. »Seit der Zar tot ist, ist niemand mehr sicher. Ich hatte Glück, mit
dem richtigen Mann verheiratet zu sein«, sagte sie, »aber es gibt
keinen Bürger in Rußland, nicht einmal einen Staatsangestellten, der
nicht in fortwährender Angst vor den Lagern lebt. Wie heißt du?« »Wladek.«
»Gut. Schlaf jetzt, Wladek. Du schaust erschöpft aus, die Reise ist
lang, und noch bist du nicht in Sicherheit.«
Wladek schlief.
Als er aufwachte, waren einige Stunden vergangen, und draußen
war es dunkel. Er schaute seine Beschützerin an, und sie lächelte.
Wladek erwiderte das Lächeln und betete heimlich, daß sie
niemandem verraten würde, wer er war - oder hatte sie es bereits
getan? Sie öffnete eines ihrer Bündel und zog etwas zu essen hervor.
Wladek verzehrte schweigend, was sie ihm anbot. Als sie die nächste
Station erreichten, stiegen fast alle Fahrgäste aus, einige, weil sie ihr
Ziel erreicht hatten, andere, um sich nach einer Erfrischung
umzusehen oder die Glieder zu strecken.
Die Frau stand auf und schaute Wladek an. »Komm mit mir«, befahl
sie.
Er stand auf und folgte ihr auf den Bahnsteig. Würde
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