Archer Jeffrey
Arzt.
Der Arzt schaute den Silberreifen eine Weile an, dann schüttelte er
den Kopf. »Nein«, sagte er. »Dieser Reifen darf nur einem Menschen
gehören.«
Er starrte den Jungen wortlos an. »Dein Vater muß ein großer Mann
gewesen sein.«
Der Arzt streifte den Reifen über Wladeks Handgelenk und ergriff
seine Hand.
»Viel Glück, Wladek. Ich hoffe, wir sehen uns nie mehr wieder.« Sie umarmten einander, und Wladek kehrte zu seiner Hütte zurück,
wo er, so betete er inbrünstig, zum letztenmal übernachten würde.
Von der Angst gequält, die Wärter könnten seinen Anzug entdecken, fand er keinen Schlaf. Als die Morgenglocke läutete, war er bereits angezogen, um sich rechtzeitig in der Küche zu melden. Der älteste Gefangene in der Küche schob Wladek vorwärts, als die Wachen kamen, um die Mannschaft des Lebensmittelwagens abzuholen. Es
waren vier Mann, und Wladek war bei weitem der jüngste. »Warum gerade ihn?« fragte einer der Wachen und wies auf
Wladek. »Er ist noch kaum ein Jahr im Lager.«
Wladeks Herzschlag setzte aus und es lief ihm kalt über den
Rücken. Der Plan des Arztes würde scheitern; und der nächste
Gefangenentransport kam frühestens in drei Monaten. Dann würde er
längst nicht mehr in der Küche sein.
»Er ist ein ausgezeichneter Koch«, sagte der Älteste, »hat im Schloß
eines Baron gelernt. Für die Wachen ist das Beste eben gut genug.« »Ach so«, sagte der Wärter, und Gier besiegte jedes Mißtrauen.
»Dann beeil dich.«
Die vier liefen zum Fahrzeug, und der ganze Zug setzte sich in
Bewegung. Wieder war die Reise lang und anstrengend, aber
wenigstens mußte Wladek diesmal nicht marschieren, und da es
Sommer war, hatte die Kälte nachgelassen. Wladek beteiligte sich
eifrig an der Zubereitung der Mahlzeiten, und da er nicht auffallen
wollte, sprach er zu keinem Menschen außer zu dem alten Koch
Stanislaw.
Nach sechzehn Tagen erreichten sie Irkutsk. Der Zug nach Moskau
stand schon in der Station. Er wartete bereits seit einigen Stunden, da
er seine Fahrt erst nach der Ankunft des Gefangenenzuges fortsetzen
konnte. Wladek saß mit seinen Gefährten aus der Feldküche auf dem
Bahnsteig; drei blickten teilnahmslos vor sich hin, der vierte aber
beobachtete jede Bewegung und studierte sorgfältig den Zug auf der
anderen Seite. Es gab einige offene Türen, und Wladek entschied sich
rasch, welche er wählen würde, wenn es soweit war.
»Versuchst du zu fliehen?« fragte Stanislaw plötzlich.
Wladek brach der Schweiß aus, aber er antwortete nicht. Stanislaw schaute ihn an. »Versuchst du es?«
Wladek schwieg.
Der alte Koch starrte den dreizehnjährigen Jungen an und nickte
mehrmals zustimmend mit dem Kopf. Hätte er einen Schwanz gehabt,
er hätte gewedelt.
»Viel Glück. Ich werde es so einrichten, daß sie dich erst in zwei
Tagen vermissen.«
Stanislaw berührte seinen Arm, und Wladek sah den Zug mit den
Gefangenen herankommen. Seine Muskeln spannten sich, das Herz
pochte, seine Augen verfolgten jede Bewegung der Soldaten. Er
wartete, bis der Zug anhielt, und schaute zu, wie Hunderte erschöpfte
Gefangene ausstiegen und sich auf dem Bahnsteig versammelten -
namenlose Männer, die nur mehr eine Vergangenheit besaßen. Als die
Station einem Ameisenhaufen glich und die Wachen voll beschäftigt
waren, kroch Wladek unter einem Waggon durch und sprang auf den
anderen Zug. Niemand beachtete ihn, als er in die Toilette am
Waggonende ging. Er schloß ab und betete und erwartete fortwährend
ein Klopfen an der Tür. Es schien eine Ewigkeit, bis der Zug sich in
Bewegung setzte. In Wahrheit dauerte es siebzehn Minuten. »Endlich, endlich«, sagte Wladek laut vor sich hin. Er schaute aus
dem kleinen Fenster und sah, wie der Bahnhof kleiner und kleiner
wurde und die neuen Gefangenen an die Ketten gelegt wurden, um die
Reise zum Lager 201 anzutreten. Er sah die Soldaten lachen. Wie
viele würden das Lager lebend erreichen? Wie viele würden die Beute
der Wölfe werden? Wann würde man ihn vermissen?
Wladek blieb noch ein paar Minuten auf der Toilette; er hatte Angst,
sich zu bewegen, war nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Plötzlich
wurde an die Tür gehämmert. Wladek überlegte rasch die Wache, der
Schaffner, ein Soldat - eine Folge von Bildern tauchten vor ihm auf,
und jedes war erschreckender als das andere. Jetzt mußte er tatsächlich
die Toilette benutzen. Es wurde weiter an die Tür getrommelt. »Heraus, heraus«, rief ein Mann in ungehobeltem Russisch. Wladek blieb keine Wahl. War es ein
Weitere Kostenlose Bücher