Archer Jeffrey
Sie mußte nicht alles
wissen. Sie wollte nicht alles wissen. Warum stand sie nicht auf und
ging? Sie wollte, Richard wäre bei ihr. Er wüßte, wie man sich in
einer solchen Situation verhält. Wie hypnotisiert von Glen Ricardo
und dem Inhalt des eleganten Dossiers war sie nicht imstande, sich zu
bewegen.
Sie schwieg.
»Letzte Woche verbrachte Mr. Osborne zweimal mehr als drei
Stunden allein mit Mrs. Preston.«
»Das beweist noch nichts«, begann Anne verzweifelt, »ich weiß,
daß sie eine wichtige finanzielle Angelegenheit besprachen.« »In einem Hotel in der La Salle Street.«
Anne unterbrach den Detektiv nicht mehr.
»Man sah sie beide Male lachend und flüsternd in das Hotel gehen;
sie hielten einander an der Hand. Das ist natürlich noch kein Beweis,
aber wir haben Fotos von ihnen, wie sie das Hotel betraten und
verließen.«
»Vernichten Sie sie«, sagte Anne leise.
Glen Ricardo zwinkerte. »Wie Sie wollen, Mrs. Osborne. Leider
gibt es noch einiges zu berichten. Weitere Nachforschungen ergaben,
daß Mr. Osborne nie in Harvard und auch kein Offizier der
amerikanischen Armee war. Es gab einen Henry Osborne in Harvard;
er war einen Meter sechzig, hatte helles Haar und kam aus Alabama.
Er fiel 1917 an der Marne. Wir wissen auch, daß Ihr Gatte wesentlich
jünger ist, als er behauptet. Sein richtiger Name ist Vittorio Togna und
er diente -«
»Ich will nichts mehr hören«, sagte Anne tränenüberströmt. »Ich
will nichts mehr hören.«
»Natürlich, Mrs. Osborne, ich verstehe. Es tut mir leid, daß meine
Nachrichten so bitter sind. Manchmal ist es in meinem Beruf…« Anne kämpfte um eine Spur von Selbstbeherrschung. »Danke, Mr.
Ricardo. Ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben. Wieviel
schulde ich Ihnen?«
»Für zwei Wochen haben Sie bereits vorausbezahlt, meine Spesen
belaufen sich auf dreiundsiebzig Dollar.«
Anne gab ihm eine Hundert-Dollar-Note und stand auf. »Sie bekommen etwas zurück, Mrs. Osborne.«
Sie schüttelte den Kopf und winkte gleichgültig ab.
»Fühlen Sie sich wohl, Mrs. Osborne? Sie sind sehr blaß. Darf ich
Ihnen ein Glas Wasser oder etwas anderes bringen?«
»Es geht mir ganz gut«, log Anne.
»Würden Sie mir erlauben, Sie nach Hause zu fahren?«
»Nein, vielen Dank, Mr. Ricardo. Ich bin imstande, allein nach
Hause zu kommen.«
Sie drehte sich um und lächelte. »Aber Ihr Anerbieten ist sehr
freundlich.«
Glen Ricardo schloß leise die Tür hinter seiner Klientin, ging langsam
zum Fenster, biß das Ende seiner letzten großen Zigarre ab, spuckte
aus und verfluchte seinen Job.
Anne blieb vor der Treppe stehen und klammerte sich an das Geländer; beinahe wäre sie ohnmächtig geworden. Das Baby bewegte sich kräftig und verursachte ihr Übelkeit. An der Hausecke fand sie ein Taxi, und als sie darin saß, konnte sie weder die Tränen zurückhalten noch entscheiden, was sie weiter tun sollte. Sobald sie nach Red House kam , eilte sie, bevor jemand vom Personal sie weinen sehen konnte, in ihr Schlafzimmer. Als sie eintrat, klingelte das Telefon, und sie nahm, mehr aus Gewohnheit als aus Neugierde, den Hörer ab.
»Kann ich, bitte, Mrs. Osborne sprechen?«
Sofort erkannte sie Alans knappen Tonfall. Eine andere müde, unglückliche Stimme.
»Hallo, Alan. Hier Anne.«
»Anne, meine liebe, ich war so betrübt, als ich heute morgen die
Nachricht erfuhr.«
»Wieso weißt du davon, Alan, wie kannst du davon wissen? Wer
hat es dir gesagt?«
»Das Rathaus rief mich kurz nach zehn an und berichtete mir alle
Einzelheiten. Ich versuchte, dich telefonisch zu erreichen, aber das
Mädchen sagte, du seist einkaufen gegangen.«
»Oh, mein Gott«, sagte Anne. »Den Auftrag hatte ich ganz
vergessen.«
Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und rang nach Atem. »Fühlst du dich wohl, Anne?«
»Ja, mir geht es gut«, sagte sie und versuchte vergeblich, das
Schluchzen in ihrer Stimme zu verbergen. »Was hat dir das Rathaus
gesagt?«
»Eine Firma namens Kirkbride and Carter bekam den Auftrag.
Offenbar war Henry nicht einmal unter den ersten drei. Ich versuchte, ihn den ganzen Vormittag zu erreichen, aber es scheint, daß er kurz nach zehn sein Büro verlassen hat und nicht mehr zurückgekommen
ist. Weißt du vielleicht, wo er ist?«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Möchtest du, daß ich hinüberkomme? Ich könnte in ein paar
Minuten bei dir sein«, sagte er.
»Nein, danke, Alan.«
Anne hielt inne und schöpfte mühsam Atem. »Bitte sei nicht böse,
daß ich dich in den letzten
Weitere Kostenlose Bücher