Archer Jeffrey
zweitenmal
Alan Lloyds Brief las.
»Was hast du gesagt?«
»Bist du taub oder nur senil? Willst du von mir heute nachmittag
vernichtend auf dem Tennisplatz geschlagen werden?«
»Nein, ich bin heute nachmittag nicht hier, Matthew. Ich habe
Wichtigeres zu tun.«
»Natürlich, alter Knabe, ich vergaß, daß du wieder eine deiner
geheimnisvollen Fahrten ins Weiße Haus unternimmst. Ich weiß, daß
sich Präsident Harding nach einem neuen Finanzberater umsieht, und
du bist genau der richtige Mann, den Platz von Charles G. Dawes,
diesem Angeber und Narren, einzunehmen. Sag ihm, du akzeptierst
unter der Bedingung, daß Matthew Lester der nächste Justizminister
wird.«
William antwortete nicht.
»Ich weiß, der Witz ist nicht sehr gut, trotzdem hättest du ihn
wenigstens zur Kenntnis nehmen können«, sagte Matthew, setzte sich zu William und schaute seinen Freud etwas genauer an. »Es sind die Eier, nicht wahr? Sie schmecken, als kämen sie aus einem russischen
Gefangenenlager.«
»Matthew, ich brauche deine Hilfe«, sagte William und schob Alans
Brief in den Umschlag zurück.
»Du hast einen Brief von meiner Schwester bekommen, und sie
findet, daß du als vorübergehender Ersatz für Rudolf Valentino nicht
schlecht bist.«
William stand auf. »Hör mit deinen Scherzen auf, Matthew.
Würdest du herumsitzen und Witze reißen, wenn die Bank deines
Vaters ausgeraubt wurde?«
Kein Zweifel, Williams Gesicht war ernst. Matthews Ton änderte
sich. »Nein, bestimmt nicht.«
»Eben. Gehen wir irgendwohin, und ich werde dir alles erklären.«
Anne verließ Beacon Hill kurz nach zehn, um vor ihrer Besprechung mit Glen Ricardo noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Als sie die Chestnut Street hinunterging, klingelte das Telefon. Das Hausmädchen schaute aus dem Fenster und stellte fest, daß ihre Herrin zu weit weg war, um zurückgerufen zu werden. Wäre Anne zurückgekehrt, so hätte sie erfahren, wem das Rathaus den Vertrag für das neue Krankenhaus zugesprochen hatte; statt dessen kaufte sie Seidenstrümpfe und versuchte eine neues Parfüm. Kurz nach zwölf war sie in Ricardos Büro und hoffte, daß das neue Parfüm den Zigarrengeruch neutralisieren würde.
»Ich hoffe, ich habe mich nicht verspätet«, begann sie munter. »Setzen Sie sich, Mrs. Osborne.«
Ricardo sah nicht sehr fröhlich aus, aber, dachte Anne, das tat er nie.
Dann bemerkte sie, daß er nicht seine gewohnte Zigarre rauchte. Glen Ricardo öffnete ein elegantes braunes Dossier, die einzige
Neuanschaffung, die Anne im Büro feststellen konnte, und entfernte
die Büroklammern von einigen Papieren.
»Sollen wir mit den anonymen Briefen beginnen, Mrs. Osborne?« Anne gefielen weder sein Tonfall noch das Wort »beginnen«. »Ja, gut«, brachte sie mühsam hervor.
»Sie stammen von einer Mrs. Ruby Flowers.«
»Wer? Warum?« fragte Anne, ungeduldig auf eine Antwort
wartend, die sie nicht hören wollte.
»Ich nehme an, daß Mrs. Flowers gegen Ihren Mann jetzt geklagt
hat.«
»Nun, das erklärt das ganze Geheimnis«, sagte Anne. »Sie will sich
rächen. Wieviel schuldet ihr Henry angeblich?«
»Sie spricht nicht von einer Schuld, Mrs. Osborne.«
»Wovon denn?«
Glen Ricardo stemmte sich von seinem Stuhl, als ob er beide Arme
brauchte, um seinen müden Körper aufzurichten. Er ging zum Fenster
und schaute über den geschäftigen Hafen von Boston.
»Sie klagt wegen gebrochenen Eheversprechens, Mrs. Osborne.« »Oh, nein«, rief Anne aus.
»Es scheint, daß die beiden, als Mr. Osborne Sie kennenlernte, kurz
vor der Eheschließung standen. Dann wurde die Verlobung plötzlich
ohne Angabe von Gründen gelöst.«
»Sie muß es auf Henrys Geld abgesehen haben.«
»Nein, das glaube ich nicht. Mrs. Flowers ist selbst recht
vermögend. Natürlich nicht so reich wie Sie, aber immerhin. Ihr
verstorbener Gatte erzeugte alkoholfreie Getränke und ließ Mrs.
Flowers gut versorgt zurück.«
»Ihr verstorbener Mann - wie alt ist sie?«
Der Detektiv ging zum Schreibtisch zurück, blätterte in dem Dossier
und fuhr mit dem Finger eine Seite hinunter. Der schwarze Nagel hielt
inne.
»Sie wird dreiundfünfzig.«
»Oh, mein Gott«, sagte Anne. »Die arme Frau. Sie muß mich
hassen.«
»Das glaube ich auch, Mrs. Osborne, aber es hilft uns nicht sehr.
Jetzt möchte ich mich den anderen Aktivitäten Ihres Gatten
zuwenden.«
Die von Nikotin gefärbten Finger überblätterten einige Seiten. Anne verspürte Übelkeit. Warum war sie gekommen, warum hatte
sie nicht letzte Woche damit Schluß gemacht?
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