Archer Jeffrey
hören. Sie
bestand darauf, das Kind zu haben. Es hätte nicht geschehen dürfen.« Betäubt von dem schneidenden Klang der Worte saß William
schweigend da.
»Wie konnte sie sterben?« flüsterte er. »Wie konnten Sie sie sterben
lassen!«
Der Arzt setzte sich zwischen die Jungen auf die Bank. »Sie wollte
nicht auf mich hören«, wiederholte er langsam. »Nach ihrer
Fehlgeburt warnte ich sie, daß sie kein zweites Kind haben dürfte,
aber als sie wieder heiratete, schlugen sie und dein Stiefvater die
Warnungen in den Wind. Während ihrer letzten Schwangerschaft hatte
sie einen zu hohen Blutdruck. Er machte mir auch jetzt Sorgen,
obwohl er nie die Gefahrenzone erreichte. Aber als du sie heute
herbrachtest, war der Blutdruck aus keinem ersichtlichen Grund so
gestiegen, daß eine Eklampsie auftrat.«
»Eklampsie?«
»Krämpfe. Manchmal überleben Patienten mehrere Anfälle.
Manchmal hören sie einfach auf - zu atmen.«
William atmete stoßweise und vergrub den Kopf in die Hände.
Matthew führte seinen Freund behutsam durch den Korridor. Der Arzt
folgte ihnen. Als sie die Tür erreichten, schaute er William an. »Ihr Blutdruck ist ganz plötzlich angestiegen, das ist sehr
ungewöhnlich. Und sie kämpfte auch nicht um ihr Leben; so, als wäre
ihr alles gleichgültig. Merkwürdig. Hat ihr irgend etwas in letzter Zeit
Kummer gemacht?«
William hob das tränenüberströmte Gesicht. »Nicht etwas«, sagte er
haßerfüllt. »Jemand.«
Als die beiden Jungen ins Red House zurückkehrten, saß Alan Lloyd in einer Ecke des Wohnzimmers. Er stand auf, als sie eintraten.
»William«, begann er sofort. »Ich mache mir Vorwürfe, daß ich das Darlehen bewilligt habe.«
William starrte ihn an, ohne seine Worte zu begreifen.
Matthew Lester unterbrach die Stille. »Ich glaube, das ist nicht mehr wichtig, Sir«, sagte er leise. »Williams Mutter ist soeben während der Entbindung gestorben.«
Alan Lloyd wurde aschfahl, suchte Halt am Kaminsims und wandte sich ab. Es war das erstemal, daß die Jungen einen erwachsenen Mann weinen sahen.
»Es ist meine Schuld«, sagte der Bankier. »Ich werde es mir nie verzeihen. Ich habe ihr nicht alles gesagt, was ich wußte. Ich liebte sie so sehr, daß ich sie nicht unglücklich sehen wollte.«
Sein Schmerz half William, sich zu beruhigen.
»Es ist ganz bestimmt nicht deine Schuld, Alan«, sagte er bestimmt. »Du hast alles getan, was du konntest, das weiß ich, und jetzt bin ich es, der deine Hilfe braucht.«
Alan Lloyd riß sich zusammen. »Wurde Osborne vom Tod deiner Mutter informiert?«
»Weder weiß ich es, noch kümmert es mich.«
»Ich habe ihn den ganzen Tag wegen des Darlehens zu erreichen versucht. Er verließ kurz nach zehn sein Büro und wurde seitdem nicht mehr gesehen.«
»Früher oder später wird er wieder hier auftauchen«, sagte William eisig.
Nachdem Alan Lloyd gegangen war, saßen William und Matthew fast die ganze Nacht im Wohnzimmer und dösten vor sich hin. Um vier Uhr morgens zählte William die Schläge der alten Wanduhr und glaubte, auf der Straße ein Geräusch zu hören. Matthew schaute aus dem Fenster und auf die Einfahrt. William ging auf steifen Beinen zu ihm. Gemeinsam beobachteten sie Henry Osborne, der, eine halbvolle Flasche in der Hand, über den Louisburg Square torkelte. Eine Weile suchte er seine Schlüssel, und schließlich erschien er an der Türschwelle und starrte verwirrt auf die zwei Jungen. »Ich will Anne, nicht dich. Warum bist du nicht in der Schule? Ich will dich nicht sehen«, lallte er mit schwerer, undeutlicher Stimme und versuchte, William zur Seite zu stoßen. »Wo ist Anne?«
»Meine Mutter ist tot«, sagte William leise.
Ein paar Sekunden starrte Henry Osborne ihn verständnislos an. Die Leere seines Blickes zerstörte Williams Selbstbeherrschung.
»Wo waren Sie, als sie ihren Mann brauchte?« schrie er.
Osborne stand immer noch leicht schwankend da. »Was ist mit dem Baby?«
»Eine Totgeburt. Ein kleines Mädchen.«
Henry Osborne ließ sich in einen Sessel fallen, während ihm die Tränen der Trunkenheit über das Gesicht liefen. »Sie hat mein kleines Baby verloren?«
Vor Schmerz und Wut konnte William kaum sprechen. »Ihr Baby? Hören Sie ausnahmsweise auf, nur an sich zu denken«, schrie er. »Sie wissen ganz genau, daß Doktor MacKenzie ihr abgeraten hat, noch ein Kind zu bekommen.«
»Ach, auch hier bist du Experte, wie in allen anderen Dingen? Hättest du dich um deine eigenen Angelegenheiten gekümmert, hätte ich mich ohne deine
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