Archer Jeffrey
Richtung des gesuchten Saals. Kaum hatte er sich wieder ihr zugewandt, als Jeanne ihm mit aller Kraft ins Gesicht schlug. » Quelle horreur! Pour qui est-ce que vous me prenez? – Wie abscheulich! Für wen halten Sie mich?« schrie sie mit sich überschlagender Stimme.
Nur eine einzige Person im Ikonen-Saal blieb nicht stehen, um das Schauspiel zu genießen. » Je vais parler à la direction – ich geh’ zum Direktor«, rief Jeanne und rauschte auf den Hauptausgang zu. Das ganze rätselhafte Geschehen war in weniger als dreißig Sekunden vorbei. Der völlig verwirrte Aufseher blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte Jeanne verblüfft nach.
Jeanne durchquerte drei Jahrhunderte schneller, als H. G. Wells es je in seinen Romanen getan hatte. Sie bog Adams Anweisung gemäß nach links in den Saal des 16. Jahrhunderts; eine weitere Linkswendung brachte sie wieder hinaus auf den langen Hauptkorridor. Wenige Augenblicke später traf sie oben an der Marmortreppe, die zur Eingangshalle hinunterführte, mit Adam zusammen.
Während sie gemeinsam die Stufen wieder hinabschritten, reichte Adam ihr die Céline-Tüte. Er wollte sich eben wieder aus dem Staub machen, da breiteten zwei Aufseher an der untersten Stufe der Treppe die Arme aus und deuteten ihnen stehenzubleiben.
»Soll ich damit abhauen?« flüsterte sie.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Adam bestimmt. »Sag einfach kein Wort.«
» Madame, excusez-moi, mais je dois fouiller votre sac. – Entschuldigen Sie bitte, ich muß Ihre Tasche durchsuchen.«
» Allez-y pour tout ce que vous y trouvez, – Nur zu, was immer Sie darin finden«, antwortete Jeanne.
»Selbstverständlich dürfen Sie ihre Tasche durchsuchen«, mischte sich Adam ein. Er war wieder an ihre Seite getreten, noch bevor Jeanne etwas hinzufügen konnte. »Es ist eine Ikone drin, ein ziemlich gutes Stück sogar, wie ich meine. Ich hab’ sie erst heute vormittag in einem Geschäft in der Nähe der Champs-Elysees erstanden.«
» Vous permettez, Monsieur? – Erlauben Sie?« fragte der Oberaufseher barsch.
»Aber gerne«, erwiderte Adam. Er zog die Zaren-Ikone aus der Plastiktüte und reichte sie dem Wächter, der über die Entwicklung der Dinge einigermaßen überrascht schien. Zwei weitere Aufseher eilten herbei; sie pflanzten sich links und rechts von Adam auf.
Der Oberaufseher fragte in gebrochenem Englisch, ob Adam es gestatten würde, wenn sich einer der Museumsexperten das Bild ansähe.
»Es wäre mir sogar ein Vergnügen«, sagte Adam. »Ich würde sehr gerne eine zweite Meinung darüber hören.«
Der Oberaufseher blickte nun immer weniger selbstsicher drein. »Bitte folgen Sie mir«, bat er Adam. Es klang gar nicht mehr unfreundlich. Er führte die beiden rasch in ein kleines Zimmer an einer Seite der Säulenhalle. Dann legte er die Zaren-Ikone auf einen Tisch in der Mitte des Raumes. Adam setzte sich. Jeanne nahm noch ganz verwirrt neben ihm Platz.
»Einen Augenblick, bitte!« Der Aufseher verließ den Raum beinah im Laufschritt. Seine beiden Kollegen bezogen neben der Türe Posten. Adam sagte noch immer nichts zu Jeanne, obwohl sie sich offenkundig zusehends ängstigte. Er lächelte ihr nur aufmunternd zu. So saßen sie da und warteten.
Schließlich öffnete sich die Türe, und ein älterer Herr mit einem Gelehrtengesicht trat ein, dicht gefolgt von dem Oberaufseher.
» Bonjour, Monsieur « , sagte der Herr zur Begrüßung und sah Adam an – zweifelsohne der erste Mann hier, der für Jeanne keinerlei Interesse zeigte. »Wie ich höre, sind Sie Engländer«, fuhr er fort und nahm sich einige Zeit, das Gemälde sorgfältig zu studieren.
Einen Augenblick lang verspürte Adam Angst. »Sehr interessant!« meinte der Herr schließlich. Einer der Aufseher legte die Hand auf seinen Gummiknüppel.
»Ja, interessant«, wiederholte er. »Spätes neunzehntes Jahrhundert, achtzehnhundertsiebzig, vielleicht achtzig«, fügte er nach einigem Zögern hinzu. »Faszinierend. Ein derartiges Kunstwerk hatten wir im Louvre noch nie – Sie sind sich ja hoffentlich darüber im klaren, daß es sich um eine Kopie minderer Qualität handelt«, sagte er, während er Adam die Ikone zurückreichte.
»Das Original der Zaren-Ikone vom heiligen Georg mit dem Drachen hängt im Winterpalast zu Leningrad. Ich habe sie dort selbst gesehen, wissen Sie«, ergänzte er selbstgefällig nach einer Weile.
»Was Sie nicht sagen«, murmelte Adam leise. Er steckte die Ikone wieder in die Plastiktüte. Der alte Herr verneigte
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