Archer Jeffrey
Leben gekommen sind, ist es oft unmöglich gewesen, einen rechtmäßigen Eigentümer aufzuspüren. Da haben die Banken, wie ich vermute – Beweise gibt es natürlich nicht – die deponierten Werte oder den Erlös aus ihrem Verkauf einfach behalten«, sagte Petrowa. »Typisch kapitalistisch.«
»Was Sie da behaupten, ist unfair und außerdem falsch, Genossin«, widersprach Romanow, der froh war, endlich mit eigenen Informationen auftrumpfen zu können. »Das ist auch eins von diesen Märchen, die der Fantasie der Armen entsprungen ist. Solche Kunstschätze, deren Besitzer sich nicht ermitteln lassen, überlassen die Banken nämlich dem Schweizerischen Roten Kreuz zur Versteigerung.«
»Wenn die Zaren-Ikone versteigert worden wäre, hätten wir das doch durch einen unserer Agenten erfahren.«
»Sehr richtig«, sagte Romanow. »Ich habe die Inventarlisten des Roten Kreuzes inzwischen überprüfen lassen: In den letzten zwanzig Jahren sind vier Ikonen unter den Hammer gekommen, aber der heilige Georg mit dem Drachen war nicht darunter.«
»Das kann doch nur heißen, daß skrupellose Bankiers die Ikone privat veräußert haben, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß niemand einen Anspruch erheben würde.«
»Da denken Sie schon wieder falsch, Genossin Petrowa.«
»Aber wieso denn?« fragte die junge Wissenschaftlerin.
»Aus einem einfachen Grund, Genossin. Die Schweizer Bankiersfamilien kennen sich gut untereinander, und sie haben bislang nie dazu geneigt, das Gesetz zu brechen. Gegen korrupte Bankiers geht die Schweizer Justiz genau so hart vor wie gegen Kapitalverbrechen. Deshalb hat auch die Mafia eigentlich nie viel Glück gehabt, wenn sie ihr Geld von den etablierten Banken sauberwaschen zu lassen versuchte. Die Schweizer Banken verdienen in ihren Geschäften mit ehrlichen Leuten so viel Geld, daß es gar nicht in ihrem Interesse liegen kann, sich mit Gaunern auf krumme Touren einzulassen. Ausnahmen sind selten. Das ist übrigens auch der Grund, warum sich so viele Leute gern an Schweizer Banken halten.«
»Wenn Göring die Zaren-Ikone gestohlen und im Tresor einer Schweizer Bank deponiert hat, könnte sie heute also irgendwo in der Welt sein.«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
»Warum?« seufzte Anna Petrowa gereizt, weil sie mit allen Schlußfolgerungen danebengetroffen hatte.
»Weil ich ganz Europa von weiß Gott wie vielen Agenten habe durchkämmen lassen, um die Ikone aufzustöbern. Sie haben praktisch mit jedem besseren Kustos, Kunsthändler und Hehler gesprochen, und wir haben trotzdem keinen einzigen Hinweis erhalten. Der Grund? Seit 1917 hat außer der hessischen Fürstenfamilie und Göring niemand die Ikone gesehen. Falls die Ikone bei dem Flugzeugabsturz nicht zerstört wurde, bleibt uns also ein Hoffnungsschimmer«, erklärte Romanow.
»Und worin sollte dieser Hoffnungsschimmer bestehen?« fragte Anna Petrowa.
»Daß das Original nicht, wie alle Welt glaubt, seit zwanzig Jahren im Winterpalast hängt, sondern im Tresor einer Schweizer Bank liegt und darauf wartet, daß jemand kommt und Anspruch darauf erhebt.«
»Eine äußerst kühne Vermutung.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewußt«, erwiderte Romanow scharf. »Aber vergessen Sie bitte nicht, daß viele Schweizer Banken eine Frist von fünfundzwanzig Jahren vorschreiben, bevor sie einen Safe öffnen, manche warten sogar dreißig Jahre zu. Und einige sehen überhaupt keine zeitliche Begrenzung vor, wenn eine ausreichende Summe hinterlegt wurde, um die Safemiete für die Aufbewahrung der Wertgegenstände abzudecken.«
»Weiß der Himmel, auf wie viele Banken das zutrifft«, seufzte die Petrowa.
»Weiß der Himmel«, bekräftigte Romanow, »aber bis morgen früh um neun Uhr wissen es hoffentlich auch Sie. Und dann werde ich wohl dem einzigen wirklichen Bankenkenner hierzulande einen Besuch abstatten müssen.«
»Soll ich mich gleich an die Arbeit machen, Genosse Major?« fragte die Wissenschaftlerin.
Romanow lächelte. Er schaute in die grünen Augen des Mädchens. In ihrer unförmigen grauen Berufskleidung wirkte sie unscheinbar, aber darunter – sie mußte geradezu umwerfend sein. Er beugte sich vor, bis ihre Lippen sich fast berührten.
»Du wirst dich morgen sehr früh an die Arbeit machen müssen, Anna, für den Augenblick reicht es, wenn du das Licht ausknipst.«
5
Zur nochmaligen Durchsicht der beiden Dokumente brauchte Adam nur wenige Minuten. Er schob das Original in den vergilbten Briefumschlag zurück, den er dann wieder in die Bibel auf
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