Archer Jeffrey
dem Bücherbrett steckte. Er falzte die Anschrift von Görings Brief und schnitt das Blatt an den Buglinien behutsam in drei Streifen, die er in ein unbeschriebenes Kuvert steckte, das er auf den Nachttisch legte. Wie konnte er sich von Brief und Dokument eine Übersetzung beschaffen, ohne unnötig Neugier zu wecken? Er hatte beim Militär gelernt, sich in ungewohnten Situationen mit äußerster Vorsicht zu verhalten. Es bei der deutschen Botschaft, dem deutschen Fremdenverkehrsamt oder der deutschen Presseagentur zu versuchen, kam nicht in Frage; offizielle Stellen würden wahrscheinlich unliebsame Fragen stellen.
Er zog sich an und schlug in der Diele im Telefonbuch nach: Deutsches Altersheim Deutsche Botschaft Deutsches Krankenhaus Deutsches Kulturinstitut Deutscher Rundfunk Sein
Zeigefinger rutschte weiter. Er stockte. Auf ein »Deutsches Übersetzungsbüro für technische Texte« folgte ein vielversprechender Eintrag. Die Adresse lautete Bayswater House, 35 Craven Terrace, W 2. Adam blickte auf die Armbanduhr. Mit den drei Teilen des Briefes in der Innentasche verließ Adam kurz vor zehn die Wohnung. Er bummelte Edith Grove hinunter, die King’s Road entlang, und genoß die Morgensonne. Die Straße wirkte so gänzlich anders als er sie aus seiner Zeit als junger Subalternoffizier in Erinnerung hatte. Boutiquen hatten die Antiquariate ersetzt; statt der Flickschuster gab es Schallplattengeschäfte; das alte Dolcis-Schuhgeschäft hatte einem Mary Quant-Modeladen Platz gemacht. Man braucht nur vierzehn Tage auf Urlaub zu fahren, dachte er wehmütig, und bei der Rückkehr ist oft nichts mehr dort, wo es einmal war.
Die Menschenmenge quoll von den Gehsteigen über die ganze Straße. Je nach Alter glotzten die Menschen sich die Augen aus dem Kopf oder legten es drauf an, selbst angestarrt zu werden. Als Adam an dem ersten der vielen Plattengeschäfte vorbeikam, mußte er sich I want to hold your hand anhören, ob man wollte oder nicht – es wurde allen Passanten in Rufweite ins Ohr geschmettert.
Am Sloane Square schien wieder die Welt einigermaßen in Ordnung – da standen, wie eh und je, das alte Peter-JonesKaufhaus, ein W. H. Smith-Laden und die Londoner Untergrundbahn. Am Sloane Square fiel Adam jedesmal das Liedchen ein, das seine Mutter oft beim Geschirrspülen in der Küche gesungen hatte:
Und du lädst zu ’nem Schmaus dir Freunde ins Haus. Es gibt Eis und kalte Pasteten. Der gefräßige Haufen kommt schon gelaufen, Sloane Square platzt fast aus den Nähten.
Er zahlte einen Shilling für die Fahrkarte nach Paddington. Er nahm in einem halbleeren Abteil Platz und ließ sich seinen Plan noch einmal durch den Kopf gehen. Als er bei Paddington Station wieder ins Tageslicht trat, orientierte er sich an den Straßenschildern und marschierte dann die Craven Road hoch, wo er sich beim ersten Zeitungsverkäufer nach Craven Terrace erkundigte.
»Vierte Straße links, Kamerad«, erwiderte der Mann am Zeitungsstand, ohne von dem Stoß Radio Times, auf den er irgend etwas kritzelte, aufzublicken. Adam dankte und befand sich wenige Minuten später am Ende einer kurzen Gasse, wo ihm ein gelbgrünes Schild entgegenleuchtete: Deutscher YMCA – Christlicher Verein junger Männer.
Er öffnete das Hoftor, ging die Einfahrt hoch und mit festem Schritt durch die Eingangstür des Gebäudes. In der Vorhalle hielt ein Portier ihn an. »Kann ich Ihnen helfen?«
Er suche, erklärte Adam betont militärisch, einen jungen Mann namens Kramer.
»Nie von ihm gehört, Sir«, antwortete der Portier, der beim Anblick von Adams Regimentskrawatte fast strammstand. Mit einem nikotingebräunten Zeigefinger suchte er die Namenslisten des Buchs auf dem Pult ab.
»Is’ nicht eingetragen, Sir«, sagte er. »Versuchen Sie’s doch mal im Gemeinschaftsraum oder im Spielzimmer«, schlug er vor und deutete mit dem Daumen zur Tür hinten rechts.
»Danke«, sagte Adam wiederum. Forsch durchquerte er die Halle und trat durch die Schwingtür, die, dem abgetretenen unteren Teil nach zu urteilen, öfter mit dem Fuß als mit der Hand aufgestoßen worden war. Er sah sich im Raum um. Da lungerte eine Handvoll Studenten herum, die deutsche Zeitungen und Illustrierte lasen. Er wußte nicht so recht, wo er anfangen sollte, bis er ein intelligent und fleißig aussehendes Mädchen entdeckte, das mit einem Time -Magazin in einer Ecke saß. Auf dem Titelblatt Leonid Breschnew. Adam schlenderte zu dem Mädchen hinüber, setzte sich auf den leeren Stuhl
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