Archer Jeffrey
die deutsche und die belgische Presse des gleichen Zeitraums.« Er entließ sie mit einem freundlichen Lächeln.
Es waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen, als Genossin Petrowa wieder in Romanows Büro hereinschneite – ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen. Romanow, der ob solcher Unartigkeit leicht die Augenbrauen gehoben hatte, verschlang den Artikel, den sie in einer Berliner Zeitung vom Samstag, dem 19. Januar 1938, ausgegraben hatte.
Die Untersuchungen über den Absturz des Flugzeugs, das die großherzogliche Familie von Hessen nach London hätte bringen sollen, sind inzwischen abgeschlossen. Alle persönlichen Besitztümer der Familie, die in der Nähe des Wracks gefunden wurden, wurden dem Großherzog, Prinz Louis, zurückerstattet. Wie zu erfahren ist, war Prinz Louis insbesondere über den Verlust eines Familienerbstücks betrübt, das ihm sein Bruder, der verstorbene Großherzog, als Hochzeitsgeschenk zugedacht hatte. Es handelt sich um ein Gemälde, das als »Zaren-Ikone« bekannt ist und aus dem Besitz seines Onkels, des Zaren Nikolaus II. stammte. Wenngleich nur eine Kopie von Rubljews Meisterwerk, galt die Ikone vom heiligen Georg mit dem Drachen doch als eines der schönsten Beispiele künstlerischen Schaffens im frühen 20. Jahrhundert, das nach der Revolution aus Rußland zu uns gelangt ist.
Romanow schaute zu der jungen Wissenschaftlerin auf. »Von wegen 20. Jahrhundert«, sagte er. »Das war das Original aus dem 15. Jahrhundert, und keiner hat es erkannt – vielleicht nicht einmal der alte Großherzog selbst. Der Zar hätte bestimmt etwas anderes mit der Ikone angefangen, wenn ihm die Flucht gelungen wäre.«
Es graute Romanow davor, Zaborski von dem definitiven Nachweis berichten zu müssen, daß die echte Zaren-Ikone vor etwa dreißig Jahren bei einem Flugzeugabsturz vernichtet worden war. Es war eine Nachricht, die ihm als Überbringer gewiß nicht förderlich sein könnte; denn Romanow war nach wie vor davon überzeugt, daß es um weit mehr gehen mußte, als um die Zaren-Ikone, die für sich allein Zaborski gewiß nicht viel bedeutete.
Er starrte auf das Foto oberhalb des Zeitungsartikels. Es zeigte den jungen Großherzog, der dem General als Leiter jener Suchaktion, welche der großherzoglichen Familie zahlreiche Familienbesitztümer hatte zurückerstatten können, dankbar die Hand schüttelte. »Hat er wirklich alle zurückerstattet?« fragte Romanow laut.
»Wie meinen Sie das?« fragte die junge Wissenschaftlerin. Romanow winkte ab und hielt den Blick unverwandt auf das verblichene Vorkriegsfoto der beiden Männer gerichtet. Obwohl der General nicht namentlich genannt wurde, hätte jedes Schulkind in Deutschland das breite, ausdruckslose Gesicht mit dem massiven Kinn und den eiskalten Augen sofort erkannt; ein Gesicht, das bei den Alliierten später berühmt-berüchtigt werden sollte.
Romanow hob den Kopf und blickte die junge Wissenschaftlerin durchdringend an. »Den Großherzog können Sie jetzt vergessen, Genossin Petrowa. Konzentrieren Sie Ihre Bemühungen auf Reichsmarschall Hermann Göring.«
Als Adam aufwachte, galt sein erster Gedanke Carolyn. Er gähnte, doch sein Gähnen verwandelte sich in ein Grinsen, als er an ihre nächtliche Einladung dachte. Dann fiel es ihm wieder ein. Er sprang aus dem Bett und lief zum Schreibtisch: Da lag alles genauso, wie er es hingelegt hatte. Er gähnte ein zweites Mal.
Es war zehn vor sieben. Obwohl Adam sich so fit fühlte wie an dem Tage seines Abschieds vom Militär, absolvierte er jeden Morgen unerbittlich ein hartes Trainingsprogramm. Er wollte sich in Topform präsentieren, falls das Foreign Office ärztliche Untersuchungen wünschte. In Sekundenschnelle war er in ein ärmelloses T-Shirt und in Shorts geschlüpft, hatte er einen alten Armee-Trainingsanzug drübergezogen und seine Laufschuhe zugeschnürt.
Auf Zehenspitzen schlich Adam aus der Wohnung, um Lawrence und Carolyn nicht aufzuwecken – obwohl er den Verdacht hegte, daß Carolyn hellwach war und ihn eher ungeduldig erwartete. Keuchend jagte er während der nächsten vierunddreißig Minuten zum Themseufer hinüber, vom Embankment über die Albert Bridge, durch den Battersea Park und zurück über die Chelsea Bridge. Eine einzige Frage ging ihm die ganze Zeit durch den Kopf: Sollte das, nach zwanzig Jahren Klatsch und boshaften Anspielungen, endlich die Chance sein, den Namen seines Vaters reinzuwaschen? Wieder daheim, prüfte er seinen Puls: hundertfünfzig
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