Archer Jeffrey
gehoben hatte, bemerkte Connor rasch, daß Zerimskij sich ebensowenig für Ballett interessierte wie für die bildende Kunst. Es war ein weiterer langer Tag für den Kandidaten gewesen; deshalb war es nicht verwunderlich, daß es ihm schwerfiel, sein Gähnen zu unterdrücken, wie Connor nicht entging. Zerimskij war früh am Morgen mit dem Zug nach Jaroslawl gefahren, um gleich nach der Ankunft sein Programm mit dem Besuch einer Textilfabrik am Stadtrand zu beginnen. Nachdem er die Gewerkschaftsführer eine Stunde später verlassen hatte, gönnte er sich rasch ein belegtes Brötchen und begab sich umgehend in eine Markthalle, dann zu einer Schule, danach zu einem Polizeirevier und zu einem Krankenhaus und machte schließlich einen nicht eingeplanten Spaziergang über den Hauptplatz der Stadt. Schließlich war er im Eiltempo zu dem Zug gefahren worden, den man für ihn aufgehalten hatte.
Die Versprechungen, die Zerimskij jedem machte, der ihm zuzuhören bereit war, unterschieden sich kaum von den gestrigen, abgesehen davon, daß »Moskau« durch »Jaroslawl« ersetzt wurde. Die Bewaffneten, die den Kandidaten auch hier zu jedem Auftritt begleiteten, wirkten noch amateurhafter als die im LeninMausoleum. Es war offensichtlich, daß die einheimischen Sicherheitsbehörden keinen Moskowiter auf ihrem Territorium duldeten.
Connor folgerte daraus, daß ein Attentat auf Zerimskij außerhalb der Hauptstadt eine viel größere Erfolgschance hatte. Der Anschlag müßte in einer Stadt verübt werden, die groß genug war, dem Attentäter die Möglichkeit zum Untertauchen zu geben, und die stolz und selbstbewußt genug war, daß die örtlichen Sicherheitsbehörden sich von den drei Profis aus Moskau nichts vorschreiben ließen.
Zerimskijs Besuch der Werft in Severodvinsk erschien Connor immer noch als die beste Gelegenheit.
Der Präsidentschaftskandidat gönnte sich nicht einmal auf der Rückfahrt nach Moskau Ruhe. Er rief die ausländischen Journalisten zu einer weiteren Pressekonferenz in sein Abteil. Doch bevor jemand eine Frage stellen konnte, sagte er: »Kennen Sie die neuesten Meinungsumfragen? Sie haben ergeben, daß ich General Borodin weit überholt habe und nur noch eine Nasenlänge hinter Tschernopow liege.«
»Aber Sie haben bisher immer gesagt, daß man auf die Meinungsumfragen nichts geben könne«, erinnerte ihn einer der Journalisten mutig. Zerimskij machte ein finsteres Gesicht.
Connor stand ganz hinten unter den Presseleuten und studierte den so sehr von sich überzeugten Kandidaten. Er wußte, daß er jeden Gesichtsausdruck, jede Bewegung, jede Manieriertheit, jedes Wort seiner Rede vorhersehen mußte.
Als der Zug vier Stunden später in den Protzkij-Bahnhof einfuhr, hatte Connor das Gefühl, daß ihn – abgesehen von Mitchell – noch jemand im Zug beobachtete. Nach achtundzwanzig Jahren wußte Connor, daß sein Gefühl ihn selten trog. Er fragte sich, ob Mitchell nicht etwas zu auffällig vorging und vielleicht ein zweiter Schatten mit größerer Erfahrung und Geschicklichkeit auf ihn angesetzt worden war. Wenn ja, was wollten sie von ihm? Heute morgen war er plötzlich von einem Gefühl befallen worden, als hätte jemand oder etwas seinen Weg gekreuzt, den oder das er schon einmal bemerkt hatte. Connor hielt nichts von dieser Art von Paranoia, doch wie alle Profis glaubte er nicht an Zufälle
Er verließ den Bahnhof und eilte zu seinem Hotel zurück, überzeugt, daß niemand ihm folgte. Aber das müßten sie auch gar nicht, wenn sie wußten, wo er abgestiegen war. Während er seine Tasche packte, versuchte er diesen Gedanken abzuschütteln. Heute würde er seine unbekannten Verfolger abhängen – es sei denn, sie wußten genau, wohin er wollte. Denn falls ihnen bekannt war, weshalb er sich in Rußland aufhielt, brauchten sie sich nur an Zerimskijs Zeitplan zu halten. Wenige Minuten später bezahlte Connor seine Rechnung in bar und verließ das Hotel.
Er mußte fünfmal das Taxi wechseln, bevor er sich von dem letzten vor dem Theater absetzen ließ. Er gab seine Tasche an der Garderobe im Untergeschoß bei einer alten Frau ab und lieh sich ein Opernglas aus. Ein Entgeld für das Glas wurde nicht verlangt, da seine Tasche als Pfand blieb.
Als am Ende der Vorstellung endlich der Vorhang fiel, erhob sich Zerimskij und winkte den Zuschauern wieder zu. Die Reaktion war nicht so enthusiastisch wie zuvor, doch Connor war sicher, daß der Kandidat das Bolschoi mit dem Gefühl verließ, daß der Besuch sich gelohnt
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