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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imperium
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Tschechen betrachteten Lubji bloß als einen ruthenischen Streber, doch da er inzwischen gut eins achtzig groß war und immer noch wuchs, sagte es ihm keiner ins Gesicht.
    Lubji war seit etwa einer Woche wieder im Lager, als die alte Frau ihm zum erstenmal auffiel. Nach dem Frühstück kehrte er in seine Baracke zurück, als er sie ein Fahrrad den Hang hinaufschieben sah, das mit Zeitungen beladen war. Ihr Gesicht konnte er nicht deutlich erkennen – selbst dann nicht, als sie bereits durchs Lagertor kam, weil sie es zum Schutz gegen den eisigen Wind mit einem Kopftuch verhüllt hatte. Sie machte sich daran, die Zeitungen auszuteilen, zuerst ans Offizierskasino, dann eine nach der anderen an die kleinen Häuser, die von den Unteroffizieren bewohnt wurden. Lubji schritt um den Exerzierplatz herum und folgte der Frau; er hegte die Hoffnung, sie könnte sich als die Person erweisen, die ihm helfen würde. Als ihr Zeitungsbeutel leer war, der von der Lenkstange hing, schob die Frau ihr Rad zum Tor des Lagers zurück. Im Vorübergehen rief Lubji ihr »Hello!« zu.
    »Good morning«, gab sie zurück, schwang sich aufs Rad, fuhr durchs Tor und radelte ohne ein weiteres Wort den Hügel hinunter.
    Am nächsten Morgen ging Lubji gar nicht erst zum Frühstück, sondern stellte sich ans Tor und wartete auf die Frau. Als er sah, wie sie ihr schwerbeladenes Fahrrad den Hang hinaufschob, rannte er ihr durchs Tor entgegen, bevor die Wachen ihn aufhalten konnten. »Good morning«, begrüßte er die Frau, nahm das Rad und schob es für sie.
    »Good morning«, erwiderte sie. »I’m Mrs. Sweetman. And how are you today?« Lubji hätte es ihr gesagt, hätte er auch nur die leiseste Ahnung gehabt, was sie ihn gefragt hatte.
    Während die Frau ihre Runde machte, trug Lubji eifrig jedes Bündel für sie. Eines der ersten englischen Worte, die er lernte, war das Wort für »Zeitung«. Von da an nahm er sich vor, jeden Tag zehn neue Wörter zu lernen.
    Am Ende des Monats achtete der Wachtposten am Tor gar nicht mehr darauf, wenn Lubji sich jeden Morgen an ihm vorbeistahl, um der alten Frau bis zum Fuß des Hügels entgegenzulaufen.
    Im zweiten Monat saß er bereits um sechs Uhr früh an der Schwelle von Mrs. Sweetmans kleinem Laden, um alle Zeitungen in die richtige Reihenfolge zu bringen und zu verpacken, bevor er das beladene Fahrrad den Hang hinaufschob. Als Mrs. Sweetman zu Beginn des dritten Monats versuchte, mit dem Lagerkommandanten sprechen zu dürfen und diesem ihre Bitte unterbreitete, hatte der Major keine Einwände, daß Lubji Hoch ihr in dem kleinen Laden jeden Tag ein paar Stunden zur Hand ging, sofern er vor dem Zapfenstreich zurück war.
    Mrs. Sweetman erkannte rasch, daß ihr Laden nicht das erste Zeitschriftengeschäft war, in dem der junge Mann gearbeitet hatte, und sie versuchte gar nicht erst, Lubji zurückzuhalten, als er die Regale und Ständer neu ordnete, die Liefertermine umorganisierte und einen Monat später die Buchhaltung übernahm. Sie wunderte sich auch nicht, daß ihr Umsatz sich schon wenige Wochen nach Lubjis Eingriffen zum erstenmal seit 1939 erhöhte.
    Immer wenn keine Kunden im Laden waren, half Mrs. Sweetman Lubji, Englisch zu lernen, indem sie ihm die Artikel auf der Titelseite des Citizen laut vorlas. Anschließend versuchte Lubji, sie ebenfalls laut zu lesen. Oft lachte Mrs. Sweetman herzhaft, wenn er ein Wort allzu komisch aussprach, worauf Lubji es sofort richtig artikulierte.
    Als der Winter dem Frühling gewichen war, kam es kaum noch vor, daß Lubji sprachliche Schnitzer machte, und es dauerte nicht mehr lange, bis er sich in eine ruhige Ecke setzte, um ganz allein zu lesen. Er wandte sich nur noch an Mrs. Sweetman, wenn er auf Worte stieß, die ihm noch fremd waren. Lange bevor er wieder vorm Tribunal erscheinen sollte, befaßte Lubji sich bereits mit den Leitartikeln des Manchester Guardian, und eines Morgens, als Mrs. Sweetman auf das Wort »genotype« starrte, ohne auch nur zu versuchen, es ihm zu erklären, beschloß Lubji, ihr weitere Verlegenheit zu ersparen: Er schlug selbst im Oxford-Taschenwörterbuch nach, das er völlig verstaubt unter dem Ladentisch entdeckt hatte.
    »Brauchen Sie einen Dolmetscher?« fragte der Vorsitzende des
    Tribunals.
»Nein, danke, Sir«, antwortete Lubji.
Der Vorsitzende hob eine Braue. Er war sicher, daß dieser
    junge Mann kein Wort Englisch beherrscht hatte, als er sechs Monate zuvor schon einmal vor ihm gestanden hatte. War das nicht der junge Bursche,

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