Archer Jeffrey
nicht sympathischer.
»Jetzt, wo der ‘ohe Chef persönlich gekommen is’, werden
Sie schon ‘ören, wer ich bin.« Kitty funkelte Jim Grey an. »Eine Diebin«, sagte Charlie. »Du bist eine Diebin.« »Ah, komm schon, Charlie, du kannst es dir leisten.« Aus
ihrer Stimme schwang keine Spur von Reue.
»Daraufkommt es nicht an, Kitty. Wenn ich …«
»Wenn du mich der Polente übergibst und be’auptest, ich
‘ätt’ dich beklaut, wird die Presse begeistert sein. Du würdest
es nich’ wagen, mich ver’aften zu lassen, Charlie, das weißt du
genau!«
»Diesmal lasse ich dich noch laufen«, entgegnete Charlie,
»aber ein zweites Mal bestimmt nicht, das darfst du mir
glauben.« Er drehte sich zu dem Geschäftsführer um und sagte:
»Wenn diese Dame je wieder versuchen sollte, das Geschäft zu
verlassen, ohne bezahlt zu haben, dann rufen Sie sofort die
Polizei, und sorgen Sie dafür, daß Anklage erhoben wird, ohne
Hinweis auf mich. Ist das klar, Mr. Grey?«
»Ja, Sir.«
»Ja, Sir, nein, Sir. Keine Angst, Charlie, ich werd’ dich
nich’ mehr belästigen.«
Charlie wirkte nicht sehr überzeugt.
»Weißt du, ich reise nächste Woche nach Kanada, wo
offenbar wenigstens eine von unserer Familie ist, die sich was
aus mir macht.«
Noch ehe Charlie darauf etwas sagen konnte, hatte Kitty den
Rock und die zwei paar Schuhe in ihrer großen Tasche verstaut
und ging an den drei Männern vorbei.
»Einen Moment!« rief Tom Arnold.
»Ach, rutsch mir doch ‘n Buckel runter«, sagte Kitty,
während sie bereits durch den Laden marschierte.
Tom blickte Charlie an, der seiner Schwester nachschaute,
bis sie auf dem Bürgersteig war und verschwand.
»Schon gut, Tom. Das ist es mir wert.«
Am 30. September 1938 kehrte der Premierminister von München zurück, wo eine Konferenz mit dem Reichskanzler stattgefunden hatte. Charlie konnte Chamberlains »Frieden-inunserer-Zeit,-Frieden-in-Ehren«-Dokument nicht überzeugen, das dieser vor den Kameras schwenkte, denn seit er durch Ben Schuberts Beschreibung aus erster Hand wußte, was im Dritten Reich vorging, zweifelte er nicht mehr daran, daß ein Krieg mit Deutschland unvermeidbar war. Im Unterhaus war bereits über die Einberufung von Wehrpflichtigen über Zwanzig debattiert worden. Und da Daniel jetzt sein letztes Jahr im St. Paul absolvierte und kurz vor der Aufnahmeprüfung für die Universität stand, konnte Charlie den Gedanken nicht ertragen, einen Sohn an einen neuen Krieg gegen die Deutschen zu verlieren. Als Daniel dann wenige Wochen später ein Stipendium fürs Trinity College in Cambridge erhielt, verstärkte dies allenfalls noch Charlies Ängste.
Als Hitler am 1. September 1939 in Polen einmarschierte, wurde Charlie klar, daß Ben Schubert keineswegs übertrieben hatte. Zwei Tage später befand sich England im Krieg.
Die ersten paar Wochen nach der Kriegserklärung herrschte trügerische Ruhe, und wenn nicht immer mehr Männer in Uniform in der Chelsea Terrace zu sehen gewesen wären bei gleichzeitigem Rückgang der Einnahmen, hätte man Charlie verzeihen können, daß er nicht so recht an Englands Verwicklung in den Krieg glauben wollte.
Zu dieser Zeit kam nur das Restaurant zum Verkauf, und Charlie bot einen angemessenen Preis dafür. Mr. Scallini akzeptierte, ohne zu feilschen, und floh heim in seine Vaterstadt Florenz. Dadurch entging er einer Internierung, im Gegensatz zu manchen anderen, die sie nur deshalb über sich ergehen lassen mußten, weil sie einen deutschen oder italienischen Namen hatten. Charlie schloß das Lokal sofort, weil er noch nicht wußte, was er mit diesem Besitz machen sollte – die Londoner hatten zur Zeit andere Sorgen, als zum Essen auszugehen. Nachdem das Restaurant nun auf ihn überschrieben war, befanden sich nur noch die Geschäfte von Mr. Wrexalls Vereinigung in anderen Händen, und Mr. Sneddle führte sein Antiquariat weiterhin selbst. Aber die Bedeutung von Mrs. Trenthams Komplex leerstehender Wohnungen wurde von Tag zu Tag offensichtlicher.
Am 7. September 1940 endete die trügerische Ruhe, als die Luftwaffe ihren ersten Großangriff auf die britische Hauptstadt flog. Von da an wanderten die Londoner in Scharen aufs Land ab. Charlie jedoch dachte gar nicht daran, sich von der Stelle zu rühren. Er befahl sogar, daß an allen Läden Schilder angebracht wurden, auf denen stand: »Öffnungszeiten unverändert«. Tatsächlich war das einzige Zugeständnis, das er an Adolf Hitler machte, das Schlafzimmer in den Keller zu verlegen und
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