Archer Jeffrey
konnte ich mir sogar eine Stunde zum Mittagessen mit Dad im Versorgungsministerium leisten, aber er bestellte sich immer nur Brot, Käse und Milch, als Vorbild für sein Team. Das füllte zwar rasch den Magen, aber sehr nahrhaft war es nicht, wie mir Mr. Selwyn versicherte, wobei er hinzufügte, daß mein Vater sogar schon den Minister so weit hätte.
»Aber nicht Mr. Churchill?« meinte ich lächelnd.
»Er ist der nächste auf der Liste, wie ich hörte.«
1943 wurde ich zum Captain befördert, was nichts weiter als die Anerkennung des War Office für die Arbeit in unserer Abteilung war, die sich recht ordentlich entwickelt hatte. Mein Vater freute sich riesig, und ich bedauerte, daß ich meinen Eltern nicht von der Begeisterung erzählen konnte, als wir den Code der deutschen U-Boot-Kommandanten gebrochen hatten. Es verblüfft mich immer noch, daß sie den Schlüssel auch lange nach unserer Entdeckung noch benutzten. Dieser Geheimcode war der Traum eines Mathematikers, und wir knackten ihn schließlich auf einer Speisekarte im Lyon’sCorner-Haus gleich neben dem Picadilly. Die Kellnerin, die uns bediente, nannte mich einen Vandalen. Ich lachte und dachte, ich könnte mir eigentlich den Rest des Tages freinehmen und Mutter in meiner neuen Captainsuniform überraschen. Ich fand, daß sie mir recht gut stand, doch mit Mutters Reaktion, als sie mir die Tür öffnete, hatte ich nicht gerechnet – sie starrte mich an, als sähe sie einen Geist. Sie fing sich zwar rasch, trotzdem wurde dieser Moment zu einem weiteren Teilchen in meinem immer komplexeren Puzzle, das ich ständig irgendwo im Hinterkopf hatte.
Der nächste Hinweis kam in der letzten Zeile eines Nachrufs, auf den ich nicht weiter achtete, bis mir daran zufällig auffiel, daß eine Mrs. Trentham zu den Hinterbliebenen gehörte und ein beachtliches Vermögen erben würde. Als solches kein wichtiger Hinweis, bis ich beim zweiten Lesen entdeckte, daß sie die Tochter eines Sir Raymond Hardcastle war, ein Name, der mir gestattete, wie bei einem Kreuzworträtsel mehrere Kästchen gleichzeitig auszufüllen. Mich verwunderte jedoch, daß kein Guy Trentham unter den Hinterbliebenen aufgeführt war.
Manchmal wünschte ich mir, ich wäre nicht mit der Art von Verstand geboren, dem es ein Bedürfnis war, Codes zu entschlüsseln und sich an mathematischen Formeln zu ergötzen. Offenbar bestand eine lineare Verbindung zwischen den Begriffen »Bastard«, »Trentham«, »Krankenhaus«, »Captain Guy«, »Wohnungen«, »Sir Raymond«, »dieser Nigel«, »Beerdigung« und der Tatsache, daß Mutter kreidebleich geworden war, als sie mich in Captainsuniform sah. Doch mir war klar, daß ich noch weitere Hinweise benötigen würde, ehe die Logik mich zur richtigen Lösung führte.
Da wurde mir plötzlich bewußt, von wessen Beerdigung die Rede gewesen sein mußte, als damals die Marquise beim Tee über »Guys Beerdigung« gesprochen hatte – der von »Captain Guy«. Aber warum war das so wichtig?
Am folgenden Samstag morgen stand ich schon sehr früh auf und fuhr nach Ashurst, der Ortschaft, in der die Marquise von Wiltshire früher zu Hause gewesen war – und das, schloß ich, war gewiß kein Zufall. Ich kam kurz nach sechs an der kleinen Kirche an, und wie erwartet, war zu dieser Zeit keine lebende Seele auf dem Friedhof. Ich sah mich um und las die Namen auf den Grabsteinen: Yardley, Baxter, Flood, HarcourtBrowne. Einige Gräber waren unkrautüberwuchert, auf anderen standen frische Blumen. Am Grab des Großvaters meiner Taufpatin hielt ich kurz an. Bestimmt gab es rund um den Glockenturm über hundert Gräber, trotzdem war die gepflegte Grabstätte der Familie Trentham, nur ein paar Meter von der Sakristei entfernt, leicht zu finden.
Als ich dann vor dem neuesten Grabstein der Familie stand, brach mir kalter Schweiß aus.
CAPTAIN GUY TRENTHAM Träger des Militärverdienstkreuzes 1896-1926
verschieden nach langer, schwerer Krankheit tief betrauert von seiner Familie
Hier lag der Mann, der mir bestimmt alle Fragen hätte beantworten können. Und ich war mit meinem quälenden Rätsel in einer Sackgasse angelangt.
Nach Kriegsende kehrte ich ins Trinity College zurück. Man gewährte mir ein zusätzliches Jahr, um mein Diplom zu machen. Zwar fanden meine Eltern, der Höhepunkt des Jahres sei mein Preis als Wrangler – so nennt man in Cambridge den Studenten des Jahres, der die mathematische Abschlußprüfung mit Auszeichnung bestanden hat – mit dem Angebot einer Fellowship
Weitere Kostenlose Bücher